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Wednesday, June 30, 2021

Nicht „nur“ eine Grippe - FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung

Die nächste Grippewelle rückt unweigerlich näher. Zweifach gewissermaßen. Zuerst droht die „Nur eine“-Grippe, das ist die, die in bestimmten Kreisen auch als „kleine“ oder „harmlose“ Grippe kursiert. Bei ihr handelt es sich allerdings gar nicht um eine Influenza-Epidemie, vielmehr ist damit Covid-19 gemeint. Seit die Inzidenzen runter- und die Angst vor der Delta-Variante hochgeht, seitdem also über die vierte Corona-Welle und die mögliche Wiederkehr von Eindämmungsmaßnahmen inklusive Lockdowns nach dem Sommer diskutiert wird, muss man mit solchen suggestiven Vergleichen wieder verstärkt rechnen. Später, im Winter, wenn die Masken womöglich gefallen sind, könnte Influenza dann wirklich zurückkehren. Im Schlepptau von Covid-19.

Joachim Müller-Jung

Redakteur im Feuilleton, zuständig für das Ressort „Natur und Wissenschaft“.

Weltweit sterben an den Folgen einer Influenza-Infektion im Schnitt jährlich an die vierhunderttausend Menschen. Tausende allein in Deutschland. Wer eine Influenza durchmacht und deswegen lange liegt, kann sie kaum als harmlos abtun. Eine Grippe ist auch nie klein, wie ein „grippaler“ Infekt, der von Erkältungsviren verursacht wird. Influenzaviren bedrohen die Gesundheit viel massiver. Und selten ist nach einer Grippesaison in der Bevölkerung die Restimmunität so groß, dass die nächste Grippesaison ausfällt. Die vergangene Grippesaison 2020/21 ist allerdings praktisch ausgefallen, im ganzen Land wurden nur ein paar Hundert Grippefälle gemeldet – nicht wegen einer Restimmunität, sondern wegen der Corona-Maßnahmen: Masken, Distanz, Hygieneregeln. Der Kampf gegen Covid-19 hat gewirkt. Allerdings gegen die Grippe – lange nicht genug gegen Corona.

Schon das müsste alle stutzig machen, die unablässig den Vergleich mit der Grippe heranziehen, um verschärfte Maßnahmen gegen die SARS-CoV-2-Ausbreitung zu verhindern. Die Verharmlosung geht nicht auf. Und sie geht immer weniger auf, je mehr die Virologen, Epidemiologen und Mediziner über den Verursacher und die Folgen der Covid-19-Pandemie an Evidenzen zutage fördern. Deshalb haben wir im Folgenden wichtige wissenschaftliche Befunde zum Unterschied zwischen Grippe und Covid-19 zusammengetragen.

Das Ansteckungsrisiko

Eine wichtige Kennzahl für die Ausbreitungsfähigkeit des Virus ist früh bekannt geworden: die Basis-Reproduktionszahl R₀. Sie gibt an, wie viele andere Menschen ein Infizierter im Schnitt „natürlicherweise“ – also ohne Eindämmungsmaßnahmen – ansteckt. Sie ist einerseits von den biologischen Eigenschaften des Virus und andererseits von den sozialen Gepflogenheiten der Bevölkerung abhängig. Bei Grippe liegt R₀ hierzulande bei etwa 1,2 – für SARS-CoV-2 haben chinesische Forscher in den ersten Wochen der Pandemie einen Wert zwischen 2,8 und 3,8 ermittelt. Wissenschaftler der Universität Lausanne in der Schweiz haben ihn anhand der Daten aus 15 westeuropäischen Ländern in der Zeitschrift PlosOne auf 1,9 bis 2,6 taxiert. Das ist der Wert für das Ursprungsvirus vom Anfang der Pandemie. Die leichter übertragbaren Virusvarianten „Alpha“ mit R₀ zwischen 3 bis 4 und die zuerst in Indien aufgetauchte Variante „Delta“ mit einem vorläufig ermittelten R₀-Wert von 5 bis 6 vergrößern noch zusätzlich den Abstand zu Influenzaviren.

Delta ist im Kommen: Ein medizinischer Facharbeiter aus Israel testet eine Jugendliche auf Covid-19.

Delta ist im Kommen: Ein medizinischer Facharbeiter aus Israel testet eine Jugendliche auf Covid-19. : Bild: AP

Ein entscheidender Faktor ist die praktisch unbemerkte Übertragung des Corona-Erregers bis zu drei Tage vor Symptombeginn — auch durch vollkommen symptomlose Virusträger über kleinste Aerosole, die schon beim Sprechen enorme Virusmengen in die Luft freisetzen können. Kanadische und australische Forscher haben den schon zu Beginn der Pandemie erkennbaren Unterschied zur Grippe in den FluNet-Datenbanken der Weltgesundheitsorganisation für vier große Länder des Nordens und Südens nachgezeichnet: Kanada, USA, Australien und Brasilien. Wie sie in Frontiers in Public Health zeigen, ging mit der Einführung der ersten Covid-Eindämmungsmaßnahmen die Grippesaison 2019/20 im Norden vorzeitig zu Ende, und im Süden wurde die Grippesaison selbst in Brasilien, wo nur basale Corona-Schutzmaßnahmen eingeführt wurden, radikal eingedämmt. Australien hatte noch Mitte 2020 eine Covid-19-Welle, während quasi kaum Grippefälle gemeldet wurden. Bei beiden Erregern handelt es sich um RNA-Viren, beide werden durch Aerosole und keineswegs nur durch Niesen oder Husten von Mensch zu Mensch übertragen, und doch gibt es Unterschiede: „Die Tatsache, dass immer noch Covid-19 grassierte, während sich Influenza gleichzeitig kaum weiter verbreitete, belegt die unterschiedliche Übertragbarkeit der beiden Erreger“, heißt es in der kanadisch-australischen Untersuchung.

Die Krankheit

Covid-19 ist, verglichen mit der saisonalen Grippe oder anderen Atemwegsinfekten, die noch deutlich gefährlichere Krankheit. Israelische Ärzte der Rambam-Klinik haben diese „höhere intrinsische Virulenz“ beim direkten Vergleich der digitalen Krankenakten von 8600 Patienten – darunter knapp 700 Covid-19-Patienten – herausgearbeitet und in Frontiers in Medicine dokumentiert. Covid-19-Opfer kämen im jüngeren Alter und mit weniger Vorerkrankungen ins Krankenhaus. Die Atemnot bei Schwerkranken sei größer, ebenso das Sterberisiko der Corona-Infizierten. Und all dem zugrunde liegen, ablesbar an den Laborwerten, Entgleisungen des Stoffwechsels und des Immunsystems der Covid-19-Opfer, die bei Grippe-Kranken ganz selten zu finden sind.

Was das bedeutet, hat eine europäische Sepsis-Forschergruppe aus Jena, Wien und Göttingen in Lancet Respiratory Medicine zusammengetragen. Die Sepsis, landläufig als „Blutvergiftung“ bekannt, hat ohnehin mit Covid-19 sehr viel mehr gemein als die Grippe – nicht zuletzt was die Spätfolgen angeht (siehe unten). In beiden Fällen handelt es sich um eine ausgeprägte Multisystemkrankheit. Im Zentrum: Blutgefäße und Immunsystem. Grippeviren befallen und vermehren sich vor allem in Zellen der Atemwege, auch in Immunzellen, allerdings weniger in Zellen des Herzens, der Gefäßinnenwand, der Hoden, des Darms, der Leber, Niere und einiger anderer Organe — anders als SARS-CoV-2. Verantwortlich dafür sind die ACE2-Rezeptoren auf all diesen Zellen, die SARS-CoV-2 als Eintrittspforte dienen. Bei den meisten schweren Covid-19-Verläufen ist es dagegen offenbar weniger die Virusvermehrung selbst als die Überreaktion des Immunsystems – das sich bei einer Influenza-Infektion in vielerlei Hinsicht anders verhält.

Die für Atemwegsinfekte untypische Entzündung der Blutbahnen führt, noch bevor die Patienten schwere Schädigungen der Lungen und Atemnot verspüren, zu Schäden der Gefäßinnenwände und zu Gerinnseln, was im Endeffekt oft in eine quasi unbemerkte, „stille“ akute Sauerstoffunterversorgung am Beginn einer schweren Covid-19-Erkrankung führt. Bei zwanzig bis siebzig Prozent Im Vergleich zu Influenza werden länger entzündungsfördernde Botenstoffe ins Blut abgegeben. Komplikationen wie Multiorganversagen und schwere Gerinnungsstörungen, so die Sepsis-Forscher, „treten bei Covid-19 häufiger auf“. Auch die T-Immunzellen sind bei schwer kranken Covid-Patienten offenkundig stärker beeinträchtigt. Während Influenza auf die Atemwege fokussiert sei, handele es sich bei SARS-CoV-2 zusätzlich um ein Gefäßendothel-Virus.

Das ungewöhnliche Entzündungsgeschehen haben Wissenschaftler des Universitätsklinikums Köln in Immunzellen genauer verfolgt. Bestimmte weiße Blutzellen – Makrophagen – werden nach der Infektion durch das Spike-Protein des Coronavirus selbst zur Ausschüttung entzündungsfördernder Botenstoffe, Interleukine, stimuliert. Schon das sei ungewöhnlich, schreiben die Infektiologen in EMBO Molecular Medicine. Noch ungewöhnlicher sei aber eine Beobachtung, die wichtig für die Beurteilung der Folgeschäden und Langzeitschäden werden könnte.

Die Vorläuferzellen, die immer wieder neue Makrophagen hervorbringen, werden nämlich durch die Infektion praktisch umprogrammiert – epigenetisch verändert. In eine ähnliche Richtung gehen die Befunde von Neurobiologen der Universität des Saarlandes, die in Nature die Unterschiede in Hirngewebeproben von Covid- und Grippeopfern beschrieben haben. Offenbar werden durch den SARS-CoV-2-Befall, nicht jedoch bei Influenza, die Immunzellen im Gehirn, die sogenannten Mikroglia, stark aktiviert. Zusätzlich hat man bei Covid-19-Opfern mit Neuroinflammation eingewanderte T-Zellen gefunden, die das Entzündungsgeschehen zusätzlich anfachen – auch dies Hinweise, die für die weitere Untersuchung der Corona-Langzeitfolgen interessant werden dürften.

Die Langzeitschäden

Auch die vermeintlich „Genesenen“ einer Influenza-Epidemie können wochen- oder monatelang unter den Folgen der Infektion leiden. Aber so nachhaltig und weit verbreitet, wie die Langzeitschäden nach Sars-CoV-2-Infektionen inzwischen erscheinen, lässt sich das kaum vergleichen – jedenfalls nicht mit der saisonalen Grippe. Auf dem Forum der Sepsis-Stiftung hat man angesichts der Parallelen in der vergangenen Woche gefordert: „Die Langzeitfolgen erfordern die gleiche Aufmerksamkeit wie die Folgen von Krebs, Schlaganfall, Herzinfarkt.“ Tatsächlich werden von den Regierungen weltweit inzwischen viele Milliarden Dollar in die Erforschung von Long-Covid investiert. In einer Studie des University College London wurden bei mehr als 3500 Covid-Überlebenden mehr als 205 unterschiedliche lang anhaltende Symptome beschrieben.

Patienten, die an der Spanischen Grippe erkrankt sind, liegen in Betten eines Notfallkrankenhauses im Camp Funston der Militärbasis Fort Riley in Kansas (Aufnahme von 1918).

Patienten, die an der Spanischen Grippe erkrankt sind, liegen in Betten eines Notfallkrankenhauses im Camp Funston der Militärbasis Fort Riley in Kansas (Aufnahme von 1918). : Bild: dpa

Bei Covid-19-Erkrankten, die im Krankenhaus behandelt wurden, leiden den deutschen Sepsis-Experten zufolge drei von vier Patienten länger an mindestens einem Symptom — meistens einer als Fatigue bekannten schweren Erschöpfung, Muskelschwäche, Gedächtnisstörungen, Schmerzen, Atemproblemen. International gibt es Studien, die mit einem Drittel Betroffener rechnet. Und selbst bei leichteren Covid-Krankheitsverläufen und mittelalten Patienten zwischen 35 und 50 Jahren sollen 12 bis 28 Prozent von Long-Covid betroffen sein. Damit wäre bis jetzt in Deutschland von 685.000 bis 1,2 Millionen Fällen eines „Post-Covid“-Syndroms auszugehen. Eine chronische Fatigue sei auch von Influenza-Patienten bekannt, aber deutlich seltener, und selbst bei schwer kranken Sepsis-Überlebenden kommt sie lediglich in zwanzig bis vierzig Prozent der Fälle vor.

Bei den bisher etwa 300 in der Jenaer Post-Covid-Ambulanz behandelten Patienten leiden neunzig Prozent mehr als drei Monate darunter, „diese Fatigue ist spezifisch für Post-Covid“, sagte Andreas Stallmach von der Universitätsklinik Jena auf dem Sepsis-Forum. Ursache dafür könnten autoaggressive Antikörper sein, deren Bildung von SARS-CoV-2 ausgelöst wird und die die Hirnfunktionen einschränken könnten. Dies würde eine alte These von Experten des Chronischen Fatigue-Syndroms bestätigen, weswegen in der Zeitschrift Autoimmunity Reviews Immunologen vom „Autoimmun-Virus“ sprechen. Die Leipziger Neuropsychologin Angelika Thöne-Otto warnt jedenfalls: „Das ist nicht psychisch“, nicht die Erschöpfung und nicht die wechselnde Vergesslichkeit oder die Gedächtnisstörungen nach Covid-19. Die „Störanfälligkeit des Gehirns“ sei strukturell im Gehirn von Covid-Patienten zwar mit MRT nicht zu sehen, aber sie offenbare sich in handfesten Hirnfunktionsstörungen bei Hirnstoffwechselanalysen mit einer FDG-PET-Bildgebung.

Die Sterblichkeit

Annähernd 4.000.000 Millionen gemeldete Covid-19-Opfer weltweit, damit übertrifft die noch immer nicht beendete Covid-19-Pandemie bereits jetzt sämtliche Influenza-Pandemien der vergangenen hundert Jahre. Nur bei der Spanischen Grippe von 1917/18, der „Mutter aller Pandemien“, sollen fünf- bis zehnmal so viele Menschen dem Influenzavirus H1N1 zum Opfer gefallen sein. Bei Vergleichsanalysen der Sterblichkeit in „normalen“ Jahren vor der Pandemie haben Wissenschaftler der Oxford-Universität und des Imperial College London im British Medical Journal ebenso wie zuvor schon amerikanische Experten die teuflische Handschrift von Covid-19 in den Sterberegistern ausgemacht.

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Allein in 29 wohlhabenden Ländern, die man analysiert hat, wurden im Jahr 2020 insgesamt fast eine Million zusätzliche Tote geschätzt – trotz der in den meisten dieser Länder spätestens zur zweiten Welle ergriffenen und teils auch rigiden Corona-Schutzmaßnahmen. USA, Großbritannien, Italien, Spanien und Polen hatten die höchste Übersterblichkeit — Norwegen, Dänemark und Neuseeland die niedrigsten Zahlen. Auch was die Infektions- und Fallsterblichkeitsraten angeht, liegen die meisten der bislang noch unvollständigen Analysen für die Covid-19-Pandemie beim fünf- bis zehnfachen Wert der saisonalen Grippe.

Der renommierte britische Statistiker David Spiegelhalter hat den Corona-Erreger mal als „Tyrann“ bezeichnet, der vor allem auf den Schwachen herumhackt: „Dieses Virus nutzt jede Schwäche, die du hast, und multipliziert sie.“ Und die Schwächsten sind die Alten: Das Risiko, an Covid-19 zu sterben, verdoppelt sich demnach alle sechs zusätzliche Lebensjahre. Auch darin ist dieses neue Virus noch unbarmherziger als die Grippe. Das war noch vor den Impfkampagnen – allerdings auch vor dem Durchmarsch der Delta-Variante.

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