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Saturday, August 21, 2021

Depression: Ihr zweites Gesicht | ze.tt - ZEIT ONLINE - ZEIT ONLINE

Ihr zweites Gesicht – Seite 1

Wenn Linda* um 17 Uhr die Haustür hinter sich zufallen lässt und sich auf dem Sofa einigelt, beginnen ihre Gedanken zu kreisen. Sie denkt dann, sie sei nichts wert, könne nichts, sei unattraktiv. Das einzige, was ihr gegen die endlose Negativspirale hilft, sagt sie, sei Ablenkung: Sie sitzt an Puzzlen mit Tausenden Teilen, malt Bilder mit einer Ausmal-App auf dem Handy, stickt, hört Podcasts, schaut nebenbei YouTube-Videos von Komiker Torsten Sträter. Wenn sie sich abends ins Bett legt, erzählt Linda, schraubt sie sich oft mit Lektüre, autogenem Training oder Selbsthypnose in den Schlaf. Ohne kann sie nicht. "All das holt mich aus meinem Kosmos raus, der sehr düster ist", sagt sie. Am nächsten Morgen steht sie mit dem vierten Weckerklingeln gegen sechs Uhr auf, springt unter die Dusche und fährt zur Arbeit.   

Linda ist 31 Jahre alt, trägt eine schwarze, kastige Brille und schwarz-rot gefärbte, schulterlange Haare. Sie lebt im bayerischen Murnau und arbeitet in der Hotline eines Autoherstellers. Ihre Vierzimmerwohnung teilt sie sich mit ihrem Freund, ihrer Katze und am Wochenende mit den beiden Söhnen ihres Freundes. Ihr Lebenslauf ist lückenlos. Keine Pause. Vermeintlich nichts deutet darauf hin, dass Linda depressiv ist.     

Pro Jahr erkranken rund acht Prozent der Menschen in Deutschland an einer Depression, etwa jede vierte Frau und jeder achte Mann ist im Laufe des Lebens betroffen. ​​"Typischerweise verläuft die Depression in Episoden", sagt der Psychiater Prof. Ulrich Hegerl, Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. "Die depressive Phase schleicht sich über Wochen oder Monate ein und hält unbehandelt dann meist zwischen vier und neun Monaten an, manchmal auch länger." Daneben gibt es noch eine andere Diagnose: die Dysthymie, eine leichtere, aber chronische Form der Depression. Sie beginnt meist im frühen Erwachsenenalter und zieht sich mitunter durch das ganze Leben. "Diese Menschen sind oft noch im Beruf und kriegen das irgendwie auf die Reihe – allerdings mit sehr großem Verlust an Lebensqualität", sagt Hegerl.

Lindas Krankheitsgeschichte beginnt in ihrer Kindheit. Ein Psychiater diagnostiziert sie als bipolar – eine psychische Erkrankung, bei der sich depressive mit manischen Phasen abwechseln. Als Linda 21 Jahre alt ist, hat sie ihren ersten Zusammenbruch. Sie betrinkt sich, denkt daran, sich selbst zu verletzen. Kurz zuvor hatte sie nach einer zu spät eingereichten Krankschreibung eine Abmahnung von ihrem Arbeitgeber im Briefkasten gefunden. "Für mich ist in dem Moment eine Welt zusammengebrochen. Der einzige Zufluchtsort, meine Arbeit", sagt Linda. Mit ihren Suizidgedanken vertraut sie sich ihrem Hausarzt an. Fünf Tage später weist sie sich in die Psychiatrie ein und wird dort als depressiv diagnostiziert, bleibt aber nur sechs Wochen – weil ihre Krankenkasse den Aufenthalt nicht länger bezahlt, erzählt sie.

Ich hatte eine Maske auf mit einem unglaublich breiten Grinsen. Und hinter dieser Maske war ich am Heulen.
Linda

Ihre Mutter, ihr Bruder und ihr Stiefvater, mit denen sie bis zu diesem Zeitpunkt zusammenlebte, ahnten nichts von ihrer Erkrankung. "Wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, habe ich jedes Mal mit einem Lächeln erzählt, wie gut alles gelaufen ist und wie super es mir geht", erzählt Linda. "Ich hatte eine Maske auf mit einem unglaublich breiten Grinsen. Und hinter dieser Maske war ich am Heulen." Statt um ihre eigenen Sorgen kümmert sich Linda um die ihrer alleinerziehenden Mutter, die nachts regelmäßig von Heulattacken geschüttelt wird, weil ihr der Alltag über den Kopf wächst: die schlechten Noten des Sohnes, die cholerischen Anfälle ihres Partners und der eigene Job, mit dem sie die Familie ernähren muss. "Ich wollte ihr meine Probleme nicht auch noch aufbürden", sagt Linda. Also ist sie diejenige, die immer für alle da ist. In der Familie wird ihre Krankheit auch heute noch totgeschwiegen – was Linda mittlerweile akzeptiert hat. 

Nach ihrem Aufenthalt in der Psychiatrie versucht sie weiter, ein normales Leben zu simulieren. Seit mehr als zehn Jahren lebt Linda mit Depressionen. Mal besser, mal schlechter. In den vergangenen Jahren hat sie oft ihren Job gewechselt. Davor arbeitete sie lange 40 Stunden die Woche als Steuerfachangestellte, an den Wochenenden jobbte sie bis sechs Uhr morgens in einer Bar. "Solange Menschen um mich rum waren, spürte ich meine Depression kaum", sagt sie. "Ich habe deren Emotionen unterbewusst gespiegelt, weil ich selbst keine hatte." Für Linda heißt das: Wenn ihr Gegenüber gute Laune hat, zeigt sie sich auch gut gelaunt. Obwohl innerlich komplette Leere ist.  

Eine "hochfunktionale Depression" gibt es nicht, sagt der Experte

Vor fünf Jahren lernte sie in eben dieser Bar ihren heutigen Freund kennen. Als sie nachts weinend bei sich zu Hause auf dem Sofa kauert, vertraut sie sich ihm über eine Textnachricht an. Damals nähern sich die beiden gerade erst an. Ihr Freund, sagt Linda, habe selbst immer wieder depressive Phasen und habe sofort gewusst, wie sie sich fühle. Und auch, wie er ihr helfen kann. Manchmal, wenn die Depression Linda in "einen dunklen, engen Raum ohne Fenster" stürzt, schafft nur er er es, sie dort herauszuholen. Er nimmt sie dann lange in den Arm, bis sich ihr Körper entkrampft oder entlockt ihr mit albernen Sprüchen ein Lächeln. Auch Sex helfe ihr, sagt sie, weil er ihr Selbstwertgefühl hebe. Linda und ihr Freund wissen voneinander, wann sie Nähe und wann Freiräume brauchen. "Ich weiß genau: Wenn ich falle, fängt er mich auf", sagt sie.

Eine Therapie macht Linda derzeit nicht, auch die Antidepressiva hat sie nach ihrem Klinikaufenthalt 2011 abgesetzt. Nachdem sie nach ihrem Zusammenbruch mit Psychopharmaka und dem Medikament Tavor regelrecht ruhiggestellt worden sei und sich selbst nicht mehr wiedererkannt habe, habe sie das Vertrauen in Psychiater*innen verloren, sagt sie.

Es gibt Menschen, die mit allerletzter Kraft die Fassade hochhalten. Und wenn sie zu Hause sind, kippen sie um und fallen ins Bett.
Prof. Ulrich Hegerl, Psychiater und Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe

Auf Lindas Arbeit wissen nur die allerwenigsten von ihrer Depression. Ihren Vorgesetzten hat sie bisher noch nie davon erzählt. Zu laut war die Angst, ausgelacht zu werden, wenn sie um Zeit für Arzttermine wegen ihrer Depression bitten würde. In ihrer jetzigen Firma, in der sie erst seit wenigen Wochen arbeitet, wird offener mit dem Thema umgegangen. Dort habe ein Kollege eine Auszeit wegen Burn-out genommen und sei vom Chef dabei unterstützt worden, erzählt Linda. Für sie ein kleiner Lichtblick. 

Im Zusammenhang mit Menschen wie Linda wird immer wieder von einer "hochfunktionalen Depression" gesprochen. "Das gibt es nicht", sagt Prof. Hegerl entschieden, "aber es gibt Menschen, die mit allerletzter Kraft die Fassade hochhalten und immer noch den Alltag bewältigen. Und wenn sie zu Hause sind, kippen sie um und fallen ins Bett."

Auch Ella, die eigentlich anders heißt, kann ihre Depression viele Monate lang vor der Außenwelt verstecken. Die 18-Jährige lebt bei ihrer Mutter in der Nähe von München und hat in diesem Jahr das Abitur gemacht. Nachmittags arbeitet sie seit rund drei Jahren fast jeden Tag in einem Hotel mit Ferienwohnungen, kümmert sich um Rechnungen und Buchungen, kontrolliert, ob die Zimmer sauber sind. Auch am Wochenende. Die Arbeit, sagt sie heute, habe sie abgelenkt. 

Lange glaubt Ella, sie sei nur in einer schlechten Phase

Auch Ellas Krankheitsgeschichte beginnt schleichend. Sie ist eine gute Schülerin, macht gern Sport, hat einen großen Freund*innenkreis. Gegen Ende der neunten Klasse rutscht sie in eine Essstörung, die sie in einer ambulanten Therapie aber schon nach einem halben Jahr überwinden kann. "Ich dachte, danach wird alles besser", sagt sie. Aber das Gegenteil ist der Fall: Ella fühlt sich immer trauriger, muss sich zwingen, etwas zu unternehmen. "Wenn ich mich für ein paar Stunden mit Freundinnen und Freunden getroffen habe, war ich total müde." Im Beisein ihrer Freund*innen will sie versuchen, lustig zu sein – aber es gelingt ihr nicht.

Ich hatte das Gefühl, so schlecht geht es mir ja nicht – ich kann ja aufstehen und meinen Alltag einigermaßen normal bewältigen.
Ella

Ein paar Mal vertraut sie sich in dieser Zeit ihnen und auch ihrer Familie an. Und hört dann immer denselben Satz. "Jeder fühlt sich mal schlecht, das gibt sich bestimmt nach ein paar Monaten wieder." Ihr Vater halte nichts von mentalen Krankheiten, sagt Ella – und erklärte sich ihre Depression zu Beginn mit Launigkeit. Auch sie selbst glaubt lange daran, dass sie einfach nur in einer schlechten Phase stecke. "Ich hatte das Gefühl, so schlecht geht es mir ja nicht – ich kann ja aufstehen und meinen Alltag einigermaßen normal bewältigen", sagt sie. Lange ist sie auf der Suche nach Erklärungen für ihre trübe Stimmung, ihre Zweifel und anhaltende Traurigkeit. "Als meine Mutter ihren Freund kennengelernt hat, habe ich versucht mir einzureden, dass mir das nicht passt und ich ihn nicht mag – obwohl ich mich eigentlich total für sie gefreut habe", sagt sie. 

Statt mit einer Psychotherapie versucht Ella es, wie Linda auch, mit Ablenkung. Sie spielt regelmäßig Volleyball, liest Hunderte Seiten Fantasyromane am Tag, stürzt sich in die Arbeit. "Dann hatte ich keine Zeit, mich schlecht fühlen."

"Ein Großteil der Bevölkerung glaubt, dass Depressionen Folgen von Schicksalsschlägen, Partnerschaftskonflikten oder Arbeitsüberforderung sind", sagt Prof. Ulrich Hegerl. Für viele Betroffene und Angehörige sei es anfangs schwer zu verstehen, dass Depression nicht nur eine Reaktion auf schwierige Lebensumstände, sondern eine eigenständige Erkrankung ist, die mit veränderter Hirnfunktion einhergeht. Die Betroffenen würden die Depression deshalb oft als persönliches Versagen fehlinterpretieren, was zur Selbststigmatisierung beitrage. "Für viele ist es eine riesige Erleichterung zu verstehen, dass man nicht schuld ist – sondern einfach das Pech hat, eine Veranlagung zu dieser blöden Erkrankung mitbekommen zu haben", sagt Hegerl.

Wann und woher weiß man, dass man Hilfe braucht?

Im November 2018 fährt Ellas Mutter sie in die Notaufnahme des Bezirkskrankenhauses in ihrer Nähe. Schon die ganze Woche ist ihre Tochter nicht in die Schule gegangen, hat keinen Antrieb, überhaupt ihr Bett zu verlassen. "Meine Mutter hatte Angst, dass ich mich suizidiere", sagt Ella. Dabei habe sie nie ernsthaft daran gedacht, sich das Leben zu nehmen, auch wenn sie sich ein paar Mal selbst verletzt habe. Im Krankenhaus spricht Ella mit einer Psychologin und füllt einen Fragebogen aus. Ihr wird Blut abgenommen. Die Diagnose: Eine mittelgradige Depression. Ella geht ab diesem Zeitpunkt einmal die Woche zur Psychologin und bekommt Medikamente: Das Antidepressivum Sertralin und das Antipsychotikum Tramadol gegen ihre Schlafstörungen. Ihre Freundinnen reagieren überrascht, als Ella ihnen von der Diagnose erzählt: "Du kannst doch alles ganz normal machen." Selbst ihrem besten Freund, der auch mit Depressionen kämpft, fällt es schwer zu verstehen, wie Ella all die Monate noch zur Schule und zur Arbeit gehen konnte.

Depressive sind keine Verrückten. Sie haben einen Job, ein Leben. Sie sind einfach nur krank.
Linda

Wann und woher weiß man, dass man Hilfe braucht? "Sobald man sich über viele Tage völlig verändert fühlt, man erschöpft und angespannt ist, schlecht einschlafen kann, unter Schuldgefühlen leidet und hoffnungslos ist, wird es höchste Zeit, dass man sich Hilfe holt und das Ganze diagnostizieren lässt", sagt Ulrich Hegerl. Es gibt drei Anlaufstellen: Den Facharzt – also den Psychiater oder Nervenarzt – den Psychologischen Psychotherapeuten und den Hausarzt. Wer in einer akuten Krise ist, kann sich, so wie Ella, auch in einer psychiatrischen Klinik vorstellen. 

Doch Ella geht es auch in dem halben Jahr ihrer ambulanten Therapie nicht besser. Als sie ins zweite Halbjahr der elften Klasse kommt, beginnt der erste Lockdown. Unterricht findet nur noch digital statt. "In den meisten Teams-Meetings habe ich geschlafen", sagt sie. Ihre Noten werden schlechter, sie kann sich nicht mehr aufs Lernen konzentrieren. Manchmal paukt sie die Nächte durch und schläft dann tagsüber. Sie geht in dieser Zeit noch ein paar Mal zur Verhaltenstherapie, verpasst eine Stunde und lässt sich dann gar nicht mehr dort blicken. Auch ihre Antidepressiva setzt sie ab, weil sie davon Kopf- und Magenschmerzen bekommen habe, sagt sie. Ihr Abitur schafft sie mit letzter Kraft und einem Schnitt von 2,5. "Hätte ich nicht eine mentale Krankheit, die mir das Leben schwer macht, hätte ich wahrscheinlich höhere Erwartungen an mein Abitur gehabt", sagt sie. "So bin ich zufrieden."

"Es macht mir Angst, wenn ich mir vorstelle, dass die Krankheit immer bei mir bleibt", sagt Ella heute, ein paar Monate später. Obwohl es ihr aktuell gut gehe, habe sie das Gefühl, sie müsse mehr kämpfen, um ihren Alltag zu bewältigen als mental gesunde Menschen. Sie schläft zwölf bis dreizehn Stunden über den Tag verteilt – Ruhezeiten, die sie braucht und sich auch nimmt. Auf der anderen Seite sucht sie die Ablenkung, geht immer noch fast täglich zum Arbeiten ins Hotel. In den nächsten Monaten will Ella reisen, wenn die Pandemie es zulässt, und danach zu ihrem besten Freund nach Berlin ziehen und Politikwissenschaften studieren. 

Ella und Linda sind beide Mitglieder der Deutschen Depressionsliga, einer Selbsthilfeorganisation für an Depression erkrankte Menschen und deren Angehörige. Besonders wichtig ist ihnen, dass die Krankheit nicht länger stigmatisiert wird. "Depressive sind keine Verrückten. Sie haben einen Job, ein Leben. Sie sind einfach nur krank", sagt Linda. Aktuell steht sie auf der Warteliste einer tiefenpsychologischen Therapeutin, bei der sie glaubt, sich wohlfühlen zu können.

Linda und Ella wollten für diesen Text anonym bleiben. Ihre echten Namen sind der Redaktion bekannt.

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