Auch wenn die Corona-Pandemie die Welt derzeit in Atem hält, bleibt Aids als unheilbare Erkrankung ein globales Problem. In Deutschland sei die Diagnose der Hauptschwachpunkt, erklärt ein Experte.
Die globale Entwicklung gibt Anlass zu Hoffnung: Weltweit haben immer mehr HIV-Infizierte Zugang zu einer antiretroviralen Therapie, die Zahl der jährlichen Todesfälle sinkt: Nach Zahlen des Programms der Vereinten Nationen für HIV/Aids (Unaids) lebten Ende 2020 weltweit knapp 38 Millionen Menschen mit HIV. 27,5 Millionen von ihnen hatten Zugang zu einer Therapie, also fast drei Viertel (73 Prozent). Zum Vergleich: Zehn Jahre früher lag der Anteil nur bei 25 Prozent.
"Die Zahl der Menschen unter antiretroviraler Therapie ist so hoch wie nie zuvor", sagt Stefan Esser, Vorsitzender der Deutschen Aids-Gesellschaft. Verantwortlich dafür seien die Arbeit von Unaids, die Hilfe diverser Stiftungen sowie effektive Anstrengungen einiger Länder in besonders betroffenen Regionen, etwa Botsuana und Uganda. Mit Abstand am schlechtesten ist die therapeutische Versorgung nach Unaids-Angaben inzwischen im Nahen Osten und Nordafrika sowie in Osteuropa und Zentralasien.
Eine Behandlung ermögliche den Betroffenen nicht nur ein normales Leben, sagt der Mediziner vom Institut für translationale HIV-Forschung der Universitätsmedizin Essen. Eine erfolgreiche Therapie drücke die Viruslast unter die Nachweisgrenze und diese Menschen seien auch nicht mehr ansteckend. Und die Zahl der weltweiten Todesfälle sinkt stetig: Im Jahr 2020 starben Unaids zufolge 680.000 Menschen an den Folgen einer HIV-Infektion, 2010 waren es mit 1,3 Millionen fast doppelt so viele.
Meist sehr späte Diagnose
Für Deutschland schrieb das Robert-Koch-Institut (RKI) im November von geschätzten 2000 Neuinfektionen im Jahr 2020. Das ist ein - möglicherweise coronabedingter - Rückgang um rund 300 im Vergleich zum Vorjahr. Insgesamt lebten 2020 nach RKI-Schätzungen mehr als 91.400 Menschen in Deutschland mit HIV/Aids, über 9500 davon wussten nichts von ihrer Infektion.
Trotz des Rückgangs der Neuinfektionen sieht Esser hierzulande Verbesserungsbedarf: "Der Hauptschwachpunkt ist die Diagnose der HIV-Infektionen", sagt er. "Wir haben zu viele sogenannte Spätdiagnostizierte." Viele von ihnen hätten bei der Diagnose ihrer Infektion schon Symptome einer Aids-Erkrankung oder weniger als 200 CD4-Helferzellen pro Milliliter Blut und damit ein hohes Risiko für HIV-assoziierte Erkrankungen. "Die Früherkennung von HIV hat sich nicht wesentlich verbessert", bemängelt der Leiter der HIV-Ambulanz am Universitätsklinikum Essen. Das sei für ein Land wie Deutschland "beschämend".
Schätzungen zufolge sei eine HIV-Infektion nur bei 88 Prozent der bundesweit Betroffenen bekannt, sagt der Mediziner und fordert von Ärzten mehr Sensibilität: Wenn etwa ein Zahnarzt in der Mundschleimhaut einen Pilz finde oder eine junge Frau mit Gürtelrose zum Arzt komme, sollten die Mediziner einen HIV-Test anbieten. Denn ist die Infektion erkannt, beginnen in Deutschland 96 Prozent der Betroffenen eine antiretrovirale Therapie. Die senke bei wiederum 96 Prozent davon die Viruslast erfolgreich. "Das ist ein sensationell guter Wert", sagt Esser.
Medikamente kontrollieren HI-Viren
Die gute Viruskontrolle geht vor allem auf immer bessere HIV-Medikamente zurück. Das erste wirksame antiretrovirale Mittel kam 1996 auf den Markt. Inzwischen gebe es etwa 25 Wirkstoffe aus sechs verschiedenen Wirkstoffklassen, sagt Clara Lehmann von der Uniklinik Köln. Bei der Therapie habe es zwar in den vergangenen Jahren keinen wirklichen Durchbruch mehr gegeben, sagt die Infektiologin, aber etliche Verbesserungen und Verfeinerungen.
Eine davon betrifft die Zahl der einzunehmenden Medikamente: Schon seit vielen Jahren nehmen die meisten Patienten täglich nur noch eine Tablette, die verschiedene Substanzen kombiniert. Noch vor wenigen Jahren enthielten diese Kombi-Präparate stets drei Wirkstoffe aus mindestens zwei Substanzklassen. Der Cocktail sollte verhindern, dass das extrem mutationsfähige Virus Resistenzen bildet. Inzwischen müssen viele HIV-positive Menschen nur noch zwei Substanzen nehmen. Möglich sei dies durch sehr effektive Arzneien mit einer "sehr hohen Resistenzbarriere", sagt Esser.
Eine weitere Neuerung sind die in diesem Jahr eingeführten Depotspritzen. Mit diesen sogenannten Injectables brauchen viele Patienten nur noch intramuskuläre Injektionen im Abstand von zwei Monaten.
Depots nur noch alle halbe Jahre
Schon in Sichtweite sind Depotpräparate, die nur noch alle sechs Monate verabreicht werden müssten. Das Präparat Lenacapavir - auch als GS-6207 bezeichnet - wird derzeit in verschiedenen Studien getestet. Im Vergleich zu den derzeit verfügbaren Wirkstoffen beruht es auf einem völlig anderen Mechanismus: Während viele derzeitige Mittel bestimmte HIV-Enzyme wie etwa Integrase, Protease oder Reverse Transkriptase hemmen, zielt dieser Wirkstoff auf das sogenannte Capsid. Diese Protein-Schicht umgibt das Erbgut des Erregers. Gewöhnlich lagert sich das Capsid in der Wirtszelle an den Zellkern an, öffnet sich und ermöglicht so den Einbau des Virus-Genoms in die Zell-DNA - und damit die Vermehrung des Erregers. Lenacapavir verändert die Capsid-Struktur und unterbindet so die Infektion.
Esser sieht in der möglichen subkutanen Gabe eine auch für Laien anwendbare Injektionsmethode, die schon bald zugelassen werden könnte. "Die Capsid-Hemmer sind enorm vielversprechend", sagt Frank Kirchhoff vom Uniklinikum Ulm. "Ich hätte nicht erwartet, dass sie so wirksam sind." Zudem sei das Capsid ein HIV-Protein, das sich relativ wenig verändere, was Resistenzen erschweren sollte.
Für Patienten, deren Viren gegen andere Wirkstoffe resistent sind, sind weitere Arzneien aus neuen Substanzklassen zugelassen worden: Der erste als Tablette einzunehmende Attachment Inhibitor Fostemsavir - Handelsname Rukobia - und der erste monoklonale Antikörper: Der Entry-Inhibitor Ibalizumab - Handelsname Trogarzo - wird alle zwei Wochen als Infusion verabreicht. Er blockiert die CD4-Rezeptoren auf menschlichen T-Zellen und verhindert so das Eindringen des Erregers in diese Zellen.
"Man hat inzwischen eine recht umfangreiche Palette an Antikörpern, die extrem wirksam sind", sagt Kirchhoff. Allerdings haben sie einen sehr hohen Preis: Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) bezifferte die Jahreskosten für eine Trogarzo-Therapie im Januar auf etwa 120.000 Euro.
Entwicklung eines HIV-Vakzins ist kompliziert
Aufmerksamkeit erregte zuletzt wieder die Suche nach einer Impfung zum Schutz vor HIV. Diese langgehegte Hoffnung musste in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Rückschläge verkraften. Nun beflügelt ausgerechnet die Corona-Pandemie solche Vorhaben wieder. Denn gegen Covid-19 wurden zwei mRNA-Impfstoffe in Rekordzeit entwickelt und zugelassen. Derzeit startet das US-Unternehmen Moderna, das eines dieser Vakzine herstellt, eine Studie, die eine mRNA-Impfung gegen HIV prüft. Die Phase-1-Studie soll zwei Varianten des Impfstoffs mRNA-1644 an insgesamt 56 Teilnehmern testen - zunächst in Hinblick auf die Sicherheit. Auch das Mainzer Unternehmen Biontech will eine HIV-Schutzimpfung entwickeln, ist allerdings noch in der präklinischen Phase.
Experten sind skeptisch: "Man muss es in jedem Fall versuchen, RNA-Impfstoffe haben ein enormes Potenzial", sagt der Virologe Kirchhoff. "Doch das wird für HIV im Vergleich zu Sars-CoV-2 viel schwieriger sein." Denn HIV ist für seine extreme Variabilität berüchtigt. Das erschwert die wirksame Neutralisation. Außerdem muss die Infektion des Erregers, der lebenslang im Körper verbleibt, vollständig verhindert und nicht nur abgeschwächt werden.
Sars-CoV-2 ist im Vergleich fast statisch
Im Vergleich zu HIV sei Sars-CoV-2 - trotz der derzeitigen Diskussion um seine Varianten - fast schon statisch, sagt Oliver Keppler vom Max von Pettenkofer-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU). Die Kölner Expertin Lehmann teilt die Skepsis. Die mRNA-Technologie biete zwar viele Vorteile - man könne diese Impfstoffe schnell designen und produzieren, aber: "Bei HIV stößt die Impfstofftechnologie an ihre Grenzen."
Keine Impfung, aber dennoch eine Vorbeugung ist die HIV-Präexpositionsprophylaxe PrEP. Die Tabletten werden seit September 2019 für Menschen mit hohem Infektionsrisiko von den Kassen gezahlt. "Es gibt immer einen gewissen Prozentsatz von Menschen, die Kondome nicht nutzen können oder wollen", sagt der Sprecher der Deutschen Aidshilfe, Holger Wicht. Mit PrEP gebe es eine Substanz, die immer im Blut sei und beim Sex zuverlässig schütze. In Studien hatte PrEP laut Wicht eine Wirksamkeit von 86 Prozent. Bei zuverlässiger Einnahme betrage der Schutz fast 100 Prozent. Da es erst kurz vor der Corona-Pandemie Kassenleistung geworden sei, könne man die Auswirkung auf die Zahl der Neuinfektionen noch nicht genau beziffern. Das RKI schätzt, dass es im Juni 2020 zwischen 15.600 und 22.300 PrEP-Nutzende in Deutschland gab.
Noch mehr herbeigesehnt als eine Schutzimpfung wird eine Heilung der Infektion. In wenigen Einzelfällen sind solche Heilungen belegt. Am berühmtesten ist der sogenannte Berliner Patient: Timothy Ray Brown war 2006 an Leukämie erkrankt und brauchte eine Stammzell-Transplantation. Ärzte der Berliner Charité fanden einen Spender, dem der sogenannte CCR5-Rezeptor fehlte - ein Einfallstor, durch das HIV in viele Körperzellen eindringt. Seit der Transplantation war der Erreger nicht mehr nachweisbar, Brown starb vor einem Jahr an Krebs.
Eine Heilung scheitert vor allem an den Reservoiren, die der Erreger im Körper angelegt hat - etwa in Darm, Gehirn und Lymphknoten. Denn auch wenn die antivirale Therapie die Zahl der Viren im Blut unter die Nachweisgrenze drücken kann, verbleiben in diesen Reservoiren inaktive Proviren, die von den Medikamenten nicht erreicht werden. Wird die antivirale Therapie abgesetzt, können diese Proviren wieder aktiv werden, sich vermehren - und die Infektion flammt wieder auf. "Heilungen sind bisher nur in Ausnahmefällen gelungen, mit riesigem Aufwand", sagt Keppler. "Dieses Ziel ist derzeit mitnichten realistisch."
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