Leser über 50 werden vielfach noch eine alte, mehr oder weniger ellipische Narbe auf einem ihrer Oberarme finden. Sie ist das sichtbare Zeichen einer Impfung gegen die (Menschen-)Pocken, eine einst gefährliche Seuche, die schon im alten Ägypten aufgetreten sein muss. Doch dank weltweiter Impfkampagnen konnten die von den Variola-Viren verursachten Pocken in den 1970er Jahren besiegt werden. 1980 erklärte die Weltgesundheitsorganisation die Pocken für weltweit ausgerottet. Anders als die meisten anderen Pockenviren zirkulierte Variola nur zwischen Menschen. Ob und wann das Variola-Virus ursprünglich aus dem Tierreich auf Menschen übersprungen war und sich an diesen neuen Wirt anpasste, lässt sich nach mehr als 3000 Jahren nicht mehr klären. Doch wahrscheinlich ist ein solcher Übergang. Denn praktisch alle bekannten Orthopockenviren haben andere Säugetiere als natürliches Reservoir, häufig sind es Nagetiere, die selbst nicht erkranken. Und der so hilfreiche Impfstoff selbst basiert auf einem Erreger, der ebenfalls Tiere befällt. Anders als der Name Vaccinia-Virus (von lat. vacca für Kuh) suggeriert, ist das Impfvirus aber wohl näher mit dem Pferdepockenvirus verwandt als mit dem der Kuhpocken. Die verwandtschaftliche Nähe zum Variola-Virus ist glücklicherweise nicht mit einer vergleichbar schweren Erkrankung verbunden. Das Vaccinia-Virus in den zuletzt verwendeten und heute noch gelagerten Pockenimpfstoffen ist im Labor abgeschwächt. Moderne Impfstoffe nutzen das sogenannte Modified-Vaccinia-Ankara-Virus (MVA), das in Säugetieren nicht mehr vermehrungsfähig ist.
Obwohl die Impfung im günstigsten Fall also schon 40 Jahre zurückliegt, bietet sie wohl noch einen ziemlich guten Schutz. »Wir wissen aus den Zeiten der weltweiten Impfkampagne zur Ausrottung der Menschenpocken, dass eine einmalige Impfung mit dem vermehrungsfähigen Lebendimpfstoff für eine sehr lange Schutzwirkung ausreichte«, sagt der Virologe und Veterinärmediziner Gerd Sutter von der Ludwig-Maximilians-Universität München. Noch nach Jahrzehnten ließen sich spezifische Gedächtniszellen der angeregten Immunantwort nachweisen. Sutter geht deshalb bei geimpften Personen von einem zumindest teilweisen Impfschutz gegen die Affenpocken aus. Allerdings sei die tatsächlich verbleibende Schutzwirkung schwer einzuschätzen, da es nicht genügend Daten zur Epidemiologie der relativ selten auftretenden Affenpocken gebe.
Ältere meist geschützt
Diesen Schutz hätten allerdings nur die eingangs erwähnten älteren Deutschen. Denn die seit 1874 geltende Impfpflicht gegen Pocken endete in der alten BRD bereits 1976, in Österreich 1981 und in der DDR 1982. Die inzwischen überwiegende Zahl der Nachgeborenen besitzen diesen Impfschutz nicht mehr. Bislang schien das unerheblich, denn die 1970 erstmals bei einem Menschen diagnostizierten Affenpocken, die nach ihrem wahrscheinlichen Wirt wohl besser Hörnchen-Pocken hießen, traten nur recht selten auf. Sie wurden auch kaum von Mensch zu Mensch übertragen, sondern meist nach sehr engem Kontakt zu infizierten Tieren. Zudem ist der Krankheitsverlauf in der Regel relativ harmlos. Die derzeitige ungewöhnliche Häufung von Affenpockenfällen in westlichen Ländern allerdings gibt zu denken, da unter den weltweit inzwischen über 300 bestätigten Fällen viele sich die Infektion weder auf Reisen nach Westafrika noch bei bekannten Tierkontakten zugezogen haben.
Eine präventive Impfung von Risikogruppen – etwa Menschen, deren Immunsystem geschwächt ist – gegen die Affenpocken hält der Chef der Ständigen Impfkommission (Stiko), Thomas Mertens, unter Umständen für sinnvoll. »Darüber wird derzeit nachgedacht«, sagte Mertens der »Rheinischen Post«. Der ältere Pockenimpfstoff wäre allerdings gerade bei Immunschwächen nicht geeignet, da er vermehrungsfähige Viren enthielt. Nach Schätzungen des Wiener Facharztes für Impfen und Reisemedizin, Herwig Kollaritsch, wäre heutzutage etwa ein Viertel der Bevölkerung wegen Gegenanzeigen nicht mehr damit impfbar. Bei dem modernen Impfstoff seien keine Nebenwirkungen zu erwarten. Das seit 2013 in der EU für Erwachsene gegen Pocken zugelassene MVA-Vakzin Imvanex von der deutsch-dänischen Firma Bavarian Nordic ist in den USA auch gegen Affenpocken zugelassen. Britische Gesundheitsbehörden haben jüngst nach Angaben der UK Health Security Agency mehr als 1000 Dosen davon an Kontaktpersonen von Affenpocken-Infizierten verabreicht. Der Epidemiologe Gérard Krause vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig meint dazu, dass diese Impfungen derzeit immer nur Einzelfallentscheidungen für besondere Situationen sein können.
Keine Anpassung an den Menschen
Die aktuelle Verbreitung des Affenpockenvirus hat nach Aussage des Virologen Thomas Mettenleiter wahrscheinlich noch nichts mit einer besseren Anpassung an den Menschen als neuen Wirt zu tun. Doch – so der Chef des für Tierseuchen zuständigen Friedrich-Loeffler-Instituts zum Nachrichtensender N-TV – je länger ein Erreger in einer neuen Population zirkuliert, desto wahrscheinlicher könnten zufällige genetische Veränderungen zu einer Anpassung führen. Immerhin erwartet das FLI derzeit nicht, dass heimische Tierarten zum Reservoirwirt werden. »Es kann zwar sein, dass ein einzelnes Haustier wie eine Katze durch direkten Kontakt zu einem betroffenen Menschen infiziert wird, aber ob dann tatsächlich eine Infektkette in Gang kommt, scheint derzeit eher unwahrscheinlich.«
Generell hat allerdings in den letzten Jahrzehnten die Zahl der von Tieren überspringenden Infektionskrankheiten zugenommen. Ein Eindruck, den der Münchener Virologe Sutter bestätigt. »Wir beobachten das schon seit 20 Jahren, angefangen 1999 mit der plötzlichen Eroberung Nordamerikas durch das West-Nil-Fieber: Flugzeug, Moskito, Ankunft in New York – das reichte, damit es sich damals binnen weniger Jahre auf dem gesamten nordamerikanischen Kontinent ausbreiten konnte.« Die Gründe sind komplex. Zum einen dringen Menschen zunehmend in Gebiete vor, in denen sie vorher nicht waren. Damit kommen sie häufiger in Kontakt mit Tieren und eröffnen für deren Krankheitserreger ein neues Wirtssystem. Hinzu kommt der Klimawandel, der Insekten, die Erreger übertragen, in andere Gebiete der Erde bringt. Auch Haltung und Verzehr von Tieren spielt aus Sutters Sicht eine Rolle. Dazu kommt eine globalisierte Reisetätigkeit, die einen Erreger in zwei Tagen um die halbe Erde tragen kann.
Ein gemeinsames Forschungsprojekt von Robert Koch-Institut und Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie hat schon vor Jahren gezeigt, dass Zoonosen keine Einbahnstraße sind. Nicht nur tierische Krankheiten springen auf den Menschen über, umgekehrt passiert das auch. So waren nach Angaben von Fabian Leendertz, Gründungsdirektor des Helmholtz-Instituts für One Health in Greifswald, sämtliche im Rahmen der Studie 2008 beobachteten Atemwegserkrankungen von Menschenaffen von Viren ausgelöst, die von Menschen auf die Tiere übertragen wurden.
Noch kein perfekter Viren-Wirt - nd - Journalismus von links
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