An seinem 42. Geburtstag hat Ingrid Döbberthien am Krankenbett ihres erwachsenen Sohnes gesessen und ihm Sprachnachrichten von seinen Freunden vorgespielt. Da liefen ihm die Tränen runter. Diesen Moment wird die Mutter so schnell nicht vergessen. Denn der Berliner Denny Döbberthien liegt seit Mitte Oktober 2021 im Wachkoma und niemand weiß genau, wie viel er von seiner Außenwelt noch mitbekommt. Geschweige denn, ob er jemals wieder zu sich kommen wird.
„Unser Sohn ist mitten aus dem Leben gerissen worden“, sagt Ingrid Döbberthien. Denny Döbberthien lebte bis vor seiner Erkrankung in Friedrichshain, arbeitete als selbstständiger Bankkaufmann und beriet Unternehmen in Steuerangelegenheiten. Er hatte einen großen Freundeskreis und sei überall sehr beliebt gewesen, betont sie.
Doch im Oktober vergangenen Jahres konnte er sich von einem auf den anderen Tag nicht mehr richtig artikulieren. „Er rief spätabends bei uns an und wirkte ganz wirr und er widersprach sich ständig in seinen Aussagen“, erinnert sich die 61-Jährige an das Telefonat. Er erzählte den Eltern bruchstückhaft, dass er gerade zehn Stunden in der Notaufnahme zugebracht habe, weil sein Gehirn nicht mehr richtig funktioniere. Da er vom langen Warten Hunger bekommen habe, sei er nach der Untersuchung nach Hause gegangen.
„Wir haben leider in diesem Moment nicht richtig reagiert und uns gedacht, dass sich Denny erst mal ausschlafen soll und es am nächsten Morgen schon ganz anders aussehen wird“, erklärt Ingrid Döbberthien mit tränenerstickter Stimme. Sie macht sich bis heute Vorwürfe, dass sie nicht einschätzen konnte, wie schlecht es um ihren Sohn stand.
Am nächsten Morgen bekamen die Eltern den Anruf eines Mitbewohners, dass ihr Sohn mit dem Rettungswagen in eine Berliner Klinik gebracht worden ist. Er hatte versucht, mit seiner Geldbörse den Fernseher anzuschalten anstatt mit der Fernbedienung. Sein Zustand habe sich dann so stark verschlechtert, dass die Ärzte ihn in ein künstliches Koma hätten versetzen müssen, um ihn überhaupt untersuchen zu können. Als sie ihn Wochen später aus der Langzeitnarkose zurückholen wollten, sei er ins Wachkoma gefallen.
Nach einem MRT diagnostizierten die Mediziner bei ihrem Sohn eine progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML), eine Erkrankung des zentralen Nervensystems. Bei Patienten wie Denny Döbberthien treten plötzlich Schwierigkeiten beim Sprechen und Denken auf, sie wirken unbeholfen und schwach. Die PML wird durch eine Virusinfektion verursacht, die bereits in der Kindheit entstanden sein kann. Menschen, die unter einem schwachen Immunsystem leiden, sind besonders anfällig, daran zu erkranken. Viele Betroffene haben einen schweren Krankheitsverlauf und sterben innerhalb der ersten neun Monate. Doch bei einigen wenigen schlagen auch Medikamente zur Unterdrückung des Immunsystems erfolgreich an und sie erholen sich nach der Absetzung allmählich wieder.
„Niemand kann eine sichere Prognose abgeben und uns sagen, ob es unser Sohn jemals zurück ins Leben schaffen wird“, sagt Ingrid Döbberthien leise. Momentan ist er in einem Pflegeheim in Brandenburg, 20 Kilometer vom Wohnort der Eltern entfernt, untergebracht. Dort wird er künstlich ernährt und rund um die Uhr überwacht und versorgt. Die Eltern fahren mehrmals in der Woche zu ihrem Kind.
Erst gestern hat Ingrid Döbberthien ihrem Sohn am Krankenbett wieder die Hymne vom 1. FC Union Berlin vorgespielt. Er war vor seiner Erkrankung großer Fan des Fußballvereins. „Wir wissen ja nicht, was er alles mitbekommt“, sagt sie. Die Mutter klammert sich in ihrer Hoffnung an jedem Grashalm fest.
Mit ihrem Ehemann Frank-Peter hat Ingrid Döbberthien jetzt einen Spendenaufruf beim Online-Portal gofundme.com gestartet. Das Paar hofft, 24.000 Euro zusammenzubekommen. Für eine spezielle Therapie inklusive Transport und Begleitperson nach Berlin, die von der Krankenkasse nicht übernommen wird. „Ein berenteter Medizin-Professor eines Berliner Krankenhauses hat uns diese Behandlung sehr ans Herz gelegt“, erklärt Ingrid Döbberthien. Die transkranielle Pulsstimulation wird normalerweise bei Alzheimer-Patienten eingesetzt. Ziel ist, die Produktivität von Nervenzellen in ausgewählten Hirnregionen mithilfe eines Geräts durch gezielte Ultraschall-Wellen zu beeinflussen.
Hoffnung auf Therapie
Die Döbberthiens glauben, dass diese Therapie den Krankheitsverlauf ihres Kindes positiv beeinflussen könnte. Auf Anfrage der Berliner Zeitung in einer neurologischen Abteilung einer Berliner Klinik, ob ihnen dieses Verfahren bekannt sei, wollte man sich dazu allerdings nicht öffentlich äußern. Die Deutsche Alzheimer-Gesellschaft distanziert sich bereits von dem teuren Verfahren, da die Wirkung nicht ganz klar sei und sie Hoffnung auf Heilung bei Betroffenen und Angehörigen wecke, die möglicherweise nicht erfüllt werden könnte. „Die häufig als Beweis für die Wirksamkeit herangezogene Studie hat 35 Patienten mit Demenz bei wahrscheinlicher Alzheimer-Krankheit (also eine sehr kleine Gruppe) untersucht. Eine Vergleichsgruppe, die eine äußerlich nicht unterscheidbare, jedoch unwirksame Behandlung (Placebo) erhalten hat, fehlt. Auf dieser Grundlage lässt sich keine Aussage zur Wirkung einer Therapie machen“, heißt es auf der Seite der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft. Und weiter: Dafür sei zunächst eine methodisch sorgfältige Untersuchung an einer größeren Stichprobe sowie in Gegenüberstellung zu einer Kontrollgruppe notwendig. Darüber hinaus werde die Studie von der Firma finanziert, die die entsprechenden Geräte vertreibe.
Doch das Ehepaar will sich die Hoffnung auf Heilung nicht nehmen lassen. Trotz der vielen Rückschläge, die die Familie schon hinnehmen musste. Im April wurde ihrem Sohn von seinem Vermieter nach 22 Jahren die Wohnung im Samariter-Kiez in Friedrichshain gekündigt. Rechtlich ist das nicht anfechtbar, da Denny Döbberthien wegen seiner fehlenden Einkünfte schon zwei Monatsmieten im Rückstand war.
Die Eltern haben aufgrund der Erkrankung ihres Sohnes eine hohe finanzielle Belastung zu stemmen. Sie mussten die Wohnung auflösen, Möbel für sein Zimmer im Heim anschaffen und auch medizinische Hilfsmittel bezahlen. Zudem fahren sie im Monat zwischen 500 und 600 Kilometer mit dem Auto zum Pflegeheim. „Wir wissen noch nicht, wie viel wir von dem Geld vom Sozialamt wieder bekommen“, sagt Ingrid Döbberthien.
Sie ist erschöpft. Die Ungewissheit und die Angst um ihren Sohn rauben ihr und ihrem Mann die Kraft. Sie sind beide Rentner und haben sich ihren Lebensabend anders vorgestellt. Doch sie müssen jetzt stark sein. Nicht nur für ihr erwachsenes Kind, sondern auch für ihre drei Enkelkinder und ihre Tochter, die sie ebenso brauchen. „Es bringt nichts, wenn wir jetzt auch noch schlappmachen“, sagt Ingrid Döbberthien. Sie hofft so sehr auf ein Wunder.
„Unser Sohn ist mitten aus dem Leben gerissen worden“ - Berliner Zeitung
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