Wechselspiel zwischen Nervenzellen und Darmbakterien
Ein amerikanisches Forschungsteam entdeckte ein bislang unbekanntes Wechselspiel zwischen Nervenzellen und unserer Darmflora. Demnach gibt es spezialisierte Nervenzellen, deren Enden direkt in den Darm reichen. Diese sondern eine Substanz ab, die die Zusammensetzung der Darmflora beeinflusst. Bei chronischen Darmentzündungen ist dieses Wechselspiel gestört.
Forschende des Weill Medical College in New York City (USA) konnten erstmals Wechselwirkungen zwischen speziellen Neuronen, Schmerzimpulsen, der Darmflora und der Entstehung von Entzündungen dokumentieren. Die Studienergebnisse wurden nun in dem renommierten Fachjournal „Cell“ präsentiert.
Nervenzellen an Aufrechterhaltung der Darmflora beteiligt
Schmerzen nehmen wir über Nervenzellen (Neuronen) wahr. Einige dieser Zellen reichen bis in den Darm hinein. Offenbar sind diese spezialisierten Neuronen mit für die Aufrechterhaltung einer gesunden Darmflora verantwortlich.
Laut der Studie sondern die schmerzempfindlichen Neuronen im Darm ein Molekül namens Substanz P ab. Diese Substanz erhöht die Population von nützlichen Mikroben im Darm, die dann wiederum dafür sorgen, dass entzündliche Reaktionen und Gewebeschäden reduziert werden.
Neue Einblicke in chronisch entzündliche Darmerkrankungen
Zudem konnte die Arbeitsgruppe belegen, dass Menschen mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen eine verringerte Anzahl solcher schmerzsensiblen Neuronen im Darm besitzen, wodurch dieser Ablauf erheblich gestört ist.
„Diese Erkenntnisse verändern unser Denken über chronisch entzündliche Darmerkrankungen und eröffnen einen völlig neuen Ansatz für therapeutische Maßnahmen“, bestätigt Studienhauptautor Dr. David Artis.
„Die Definition einer bisher unbekannten sensorischen Funktion für diese spezifischen Neuronen bei der Beeinflussung der Mikrobiota bringt eine neue Ebene des Verständnisses für die Interaktionen zwischen Wirt und Darmflora“, fügt Studienerstautor Dr. Wen Zhang hinzu.
Morbus Crohn und Colitis ulcerosa bislang falsch behandelt?
Unter dem Oberbegriff chronisch entzündliche Darmerkrankungen werden die beiden Krankheiten Morbus Crohn und Colitis ulcerosa zusammengefasst. Bislang wird versucht, diese Erkrankungen mit Medikamenten zu behandeln, die auf das Immunsystem abzielen.
Aktuelle Studienergebnisse legen nun jedoch vermehrt nahe, dass die im Darm lebenden Bakterien einen vielversprechenderen Ansatz zur Behandlung von Morbus Crohn und Colitis ulcerosa darstellen. Die nun entdeckten Neuronen bieten eine weitere Schnittstelle, über die die Darmflora beeinflusst werden könnte.
Über die neu entdeckten Neuronen im Darm
Die Nervenenden der Neuronen reichen direkt in den Darm hinein. Die Nervenzellen bilden der Studie zufolge ein Oberflächenprotein namens TRPV1, welches als Rezeptor für schmerzbezogene Signale dient.
Der Rezeptor erkennt beispielsweise Hitze, Säure und Capsaicin, also die Substanz, die Chilis scharf macht. Wird der Rezeptor aktiviert, nehmen wir einen brennenden Schmerz wahr.
Ablauf der Studie
Als die Forschenden bei Mäusen TRPV1 ausschalteten, entwickelten die Tiere wesentlich stärkere Entzündungsreaktionen und Gewebeschädigungen im Darm. Nach einer erneuten Aktivierung der Rezeptoren, legten sich die Entzündungen wieder.
Die Blockierung der Rezeptoren zog eine Veränderung in der Zusammensetzung der Darmflora nach sich. Die Forschenden pflanzten die veränderte Darmflora in den Darm von gesunden Mäusen, woraufhin auch diese Tiere Entzündungsreaktionen entwickelten.
Ein Breitbandantibiotikum, dass ein Großteil der Darmbakterien abtötete, konnte die Entzündungsreaktionen neutralisieren. Insgesamt konnte die Arbeitsgruppe mit diesen Versuchen nachweisen, dass nicht die Neuronen, sondern die Darmbakterien selbst für die Entzündungen verantwortlich sind.
Nerven beeinflussen Darmflora über Substanz P
Die Forschenden kommen zu dem Ergebnis, dass die Aufrechterhaltung einer gesunden Zusammensetzung von Darmbakterien den Darm vor Entzündungen und Gewebeschäden schützt.
Spezielle Nervenzellen im Darm tragen zur Aufrechterhaltung einer gesunden Darmflora bei, indem sie ein Molekül namens Substanz P in den Darm absondern, wodurch bestimmte Darmbakterien gefördert werden.
Neue Ansätze bei Morbus Crohn und Colitis ulcerosa
Aus den Ergebnissen leitet sich ab, dass Substanz P ein potenzieller Wirkstoff für Menschen mit Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa sein könnte. Derzeit ist allerdings noch nicht genau bekannt, wie die Substanz ihre Wirkung auf die Darmmikroben-Population ausübt. Diese Frage will das Team nun in einer Folgestudie beantworten.
Trotzdem geben die neuen Erkenntnisse Grund zur Hoffnung für Betroffene mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen, vor allem für diejenigen, bei denen verfügbare Therapien nicht gut anschlagen.
Derzeit verfügbare Therapien wirken nur teilweise
„Viele der derzeitigen entzündungshemmenden Medikamente wirken nur bei einem Teil der Patienten, und die Pharmaunternehmen wussten bisher nicht, warum“, gibt Dr. Artis zu bedenken.
„Vielleicht liegt es daran, dass wir bei chronischen Entzündungen bisher nur einen Teil des Bildes gesehen haben – und jetzt beginnt der Rest, einschließlich der Rolle des Nervensystems, ins Blickfeld zu rücken“, resümiert der Wissenschaftler. (vb)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
Autor:
Diplom-Redakteur (FH) Volker Blasek
Quellen:
- Wen Zhang, Mengze Lyu, Nicholas J. Bessman, et al.: Gut-innervating nociceptors regulate the intestinal microbiota to promote tissue protection; in: Cell (2022), cell.com
- Weill Cornell Medicine: Pain-Sensing Gut Neurons Protect Against Inflammation (veröffentlicht: 14.10.2022), news.weill.cornell.edu
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.
Morbus Crohn und Colitis ulcerosa: Neue Einblicke in die Ursachen - Heilpraxisnet.de
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