In vielen Ländern werden zurzeit die Corona-Maßnahmen gelockert, der Alltag wird wieder freier. Doch die Wunden der vergangenen Monate sitzen tief. Wir haben Psychotherapeutinnen und -therapeuten aus vier Ländern gefragt, welche Auswirkungen die Pandemie auf ihre Patientinnen und Patienten sowie sie selbst hat.
Bestandsaufnahme
Die Bedingungen in den Ländern der Therapeutinnen und Therapeuten sind extrem unterschiedlich: Im Iran sterben noch jeden Tag mehr als 400 Menschen am Virus. Wer es sich leisten kann, organisiert sich seinen Impfstoff auf dem Schwarzmarkt. In Italien und Spanien startet die Urlaubssaison, bald dürfen wieder Touristen anreisen. Israel ist bereits in einem postpandemischen Alltag angekommen, die Impfkampagne des Landes gehört zu den erfolgreichsten der Welt.
Ofer Grosbard, Israel: Wir sind drüber hinweg. Bald wird das Leben wieder so sein wie vor der Pandemie. Aber manche Menschen hat die Pandemie gebrochen. Sie brauchen Zeit, um sich davon zu erholen.
Sara Reginella, Italien: Wir waren das erste Land in Europa, das so hart von der Pandemie getroffen wurde. Nach mehr als einem Jahr sind wir erschöpft.
Laura Rojas-Marcos, Spanien: Ich habe das Gefühl, die Pandemie hat die Menschen in Spanien zusammengeschweißt. Ich werde nicht vergessen, wie die Menschen in die Supermärkte gelaufen sind, um Müllbeutel zu kaufen und aus ihnen Schutzkleidung für das medizinische Personal zu nähen.
Dilara Nafisi, Iran: Die meisten Menschen fühlen sich isoliert. Die iranische Gesellschaft ist engmaschig gestrickt, wir sind es gewohnt, einander zu besuchen und zusammenzusitzen. Seit das nicht mehr möglich ist, haben Angstzustände und Stress zugenommen.
Rückschau
Seit Beginn der Pandemie sind fast anderthalb Jahre vergangen. Woran haben die Patientinnen und Patienten in den verschiedenen Ländern besonders gelitten? Welche Leiden sind überall gleich – und welche durch die ortsspezifische Pandemielage zu erklären?
Sara Reginella, Italien: Viele haben über den Mangel an physischem Kontakt geklagt. Wir Menschen brauchen die Berührungen. Säuglinge, die nicht berührt werden, sterben. Ein Jahr ohne Berührungen hat gefährliche Auswirkungen auf unsere Psyche.
Laura Rojas-Marcos, Spanien: Ich kümmere mich jetzt vermehrt um Ärztinnen und Pflegepersonal. Sie haben posttraumatische Belastungsstörungen entwickelt, litten unter Schlafstörungen und Erschöpfung. Viele hatten über Leben und Tod entscheiden müssen, ohne selbst ausreichend geschützt zu sein: In Spanien waren so viele Krankenpfleger infiziert wie nirgendwo sonst in Europa. Viele von ihnen haben ihren Job aufgegeben oder denken darüber nach. Ich war am 11. September in New York und 2004 in Madrid, als islamistische Terroristen vier Züge in die Luft sprengten. Ich weiß, wie wichtig es ist, sich um die zu kümmern, die sich um uns kümmern.
Sara Reginella, Italien: Die Teenager hat es besonders hart getroffen, die 14- bis 19-Jährigen durften ein Jahr lang nicht zur Schule gehen. Sie hingen von morgens bis abends im Netz. Die Selbstverletzungen unter Jugendlichen haben zugenommen, auch die Selbstmorde, das weiß ich von einer Klinik für Kinder und Jugendliche in Rom.
Dilara Nafisi, Iran: Am Anfang der Pandemie hatte ich mehr Patientinnen als sonst, vor allem Frauen. Sie verbringen viel mehr Zeit mit ihren Kindern, müssen sie zu Hause unterrichten und sind überfordert mit dem Schulstoff.
Ofer Grosbard, Israel: Ich erhielt mehrere Anrufe aus der arabischen Gesellschaft, das hat mich überrascht. Muslime und orthodoxe Juden entscheiden sich in Israel seltener für eine Therapie. Sie denken anders, ihre Kulturen sind kollektivistisch, die Gruppe steht im Zentrum. Sie fremdeln sonst eher mit dem individualistischen Ansatz der Psychotherapie, in sein Inneres zu schauen.
Sara Reginella, Italien: Ich habe jetzt Patienten, die sind 75 und älter. Das ist eine Generation, die sehr selten psychologische Hilfe in Anspruch nimmt. Viele schämen sich, wenn sie das erste Mal mit mir sprechen. Ich erkläre ihnen dann, dass es normal ist, sich um die eigene Psyche zu kümmern, sie würden ja auch einen Knochenbruch behandeln lassen.
Laura Rojas-Marcos, Spanien: Ich habe auch viele Paare begleitet, die sich getrennt haben. Meist hatten sie vorher schon Probleme.
Sara Reginella, Italien: Manche Familien haben die Pandemie auf 60 Quadratmetern verbracht. Ich helfe ihnen, Privatsphäre zu schaffen. Zum Beispiel schlage ich ihnen vor, sich in unterschiedliche Ecken der Wohnung zurückzuziehen. Dinge alleine zu machen, das ist wichtig. Ich habe Kinder beobachtet, die unter Angstzuständen leiden, weil sie die Sorgen ihrer Eltern übernommen haben. Sie haben ein zwanghaftes Verhalten entwickelt, sie waschen andauernd ihre Hände.
Dilara Nafisi, Iran: Die Angst vor dem Virus hat viele Zwangsneurosen verursacht. Manche meiner Patientinnen desinfizieren alles, was sie berührt haben. Die Angst wird uns nach der Pandemie weiterhin beschäftigen.
Laura Roja-Marcos, Spanien: Viele haben angefangen, zu trinken. Zu viel.
Sara Reginella, Italien: Der Alkoholmissbrauch ist das Schlimmste. Ich kann den Menschen helfen, aber wenn sie trinken oder Drogen nehmen, komme ich nicht mehr an sie ran.
Dilara Nafisi, Iran: Ich sehe so viel unverarbeitete, ungeteilte Trauer. Eigentlich kommen Familienmitglieder hier für sieben Tage zusammen, wenn jemand gestorben ist. Weil diese Zeremonien ausfallen, haben die Menschen neue Taktiken entwickelt. Sie haben zum Beispiel im Namen der verstorbenen Person an bedürftige Menschen oder an Organisationen gespendet.
Ofer Grosbard, Israel: Man könnte denken, dass wir in Israel an den Tod gewöhnt sind, weil jeder hier Erfahrungen mit Krieg hat. Aber das Gegenteil ist der Fall. Wir sind sensibilisiert, das Leben ist umso kostbarer.
Sara Reginella, Italien: In Italien reden wir nicht gerne über den Tod, daran ändern auch die tiefe Religiosität vieler Menschen und der Vatikan nichts.
Politische Lage
In ihren Behandlungszimmern bekommen die Therapeutinnen und Therapeuten jeden Tag mit, was die Menschen in ihrem Land bewegt. Für sie werden die Auswirkungen der von der Regierung ergriffenen Corona-Maßnahmen an der psychischen Verfassung ihrer Patientinnen und Patienten sichtbar.
Ofer Grosbard, Israel: Unser Premierminister hat früh erkannt, was Corona bedeutet. Er sagte: Wir sind im Krieg, also müssen wir uns auch so benehmen. Er rief den Chef von Pfizer an. Der sagte später im Fernsehen, Netanjahu hätte ihn regelrecht verfolgt, hätte ihn immer wieder angerufen, einmal sogar nachts um drei. Wir brauchen den Impfstoff, hätte Netanjahu gesagt, wir sind das beste Labor! Wir haben ein digitales Gesundheitssystem und können innerhalb kurzer Zeit das gesamte Land impfen! So bekamen wir den Stoff sehr früh.
Laura Rojas-Marcos, Spanien: Die Mehrheit der Bevölkerung ist desillusioniert, was die Politik betrifft. Die Menschen sind verärgert, ganz gleich, auf wessen Seite sie stehen. Dass die Menschen ängstlich sind, liegt auch an der verwirrenden Kommunikation in der Anfangszeit der Pandemie. Erst hieß es, wir sollten Masken tragen, dann wieder nicht.
Ofer Grosbard, Israel: Wer geimpft ist, erhält einen grünen Pass. Wer ihn nicht hat, kann nirgendwo hingehen. Ich hatte eine Patientin, die sich nicht impfen lassen wollte. Dann können wir uns nur online sehen, sagte ich ihr. Wenn diese Menschen bei mir anrufen, versuche ich nicht, sie mit wissenschaftlichen Argumenten zu überzeugen. Ich bitte sie, sich für mich impfen zu lassen. Bei religiösen Menschen zitiere ich manchmal Sätze aus dem Koran oder aus der Thora, um sie von der Impfung zu überzeugen.
Dilara Nafisi, Iran: Die meisten Iraner haben weniger Einkommen als zuvor, sie müssen weiterarbeiten, ihre Existenz ist in Gefahr. Wir hatten in den letzten Jahren mehrere Finanzkrisen, wir leiden unter den Sanktionen. Es heißt, wir sollen zu Hause bleiben, aber ich beobachte, dass praktisch alles weiterläuft.
Ofer Grosbard, Israel: Die Maßnahmen wurden nicht von allen Bevölkerungsschichten akzeptiert. Manche haben sich nicht an die Quarantänebestimmungen gehalten, also hat der Geheimdienst über die Ortungsdienste unsere Bewegungen verfolgt und ermittelt, wer mit wem in Kontakt stand und vielleicht in Quarantäne muss.
Sara Reginella, Italien: Die Leute sind wütend. Seit einem Jahr ist vieles geschlossen, und die Opfer, die dafür gebracht wurden, werden nicht wahrgenommen. Die Entschädigungen, die die Regierung gezahlt hat, waren nicht ausreichend.
Laura Rojas-Marcos, Spanien: Die Mittelschicht, die hart arbeitet und Steuern zahlt, verliert gerade ihre Jobs. Und dann wird gleichzeitig darüber diskutiert, die Steuern zu erhöhen – in einer Situation, in der alle Angst haben und Stress. Das ist schwer zu ertragen.
Ofer Grosbard, Israel: Es kam vor, dass ich mit Patienten in den Bunker gelaufen bin, wegen eines Raketenangriffs. Kaum saßen wir, sprachen sie weiter über das, was ihnen ihre Frau angetan hat. Die Menschen sprechen über kleine Dinge, die ihnen widerfahren, nicht über den Krieg. Deshalb erzählen mir meine Patientinnen auch nicht, dass sie erleichtert sind, wieder ins Restaurant gehen zu können. Erfolge sind in meiner Praxis eher selten ein Thema.
Durchhaltevermögen
Die Arbeitsbelastung von Psychotherapeutinnen und -therapeuten ist in der Pandemie gestiegen: Alle Interviewten berichten, sie hätten mehr Patientinnen und Patienten aufgenommen als in normalen Zeiten. Wie hat sich ihre Arbeit verändert? Und wie kümmern sie sich um sich selbst?
Laura Rojas-Marcos, Spanien: Meine Arbeit beginnt um sieben Uhr morgens, und manchmal arbeite ich bis 23 Uhr. Ich arbeite am Wochenende, meine Kolleginnen und Kollegen auch.
Sara Reginella, Italien: Wir arbeiten rund um die Uhr, und andere haben ihre Arbeit verloren.
Dilara Nafisi, Iran: Vor der Pandemie hatte ich Angst vor dem Tod, ich wollte nie jung sterben. Die Pandemie hat mich gezwungen, mich mit dem Tod auseinanderzusetzen. Und auf eine Art habe ich meinen Frieden geschlossen mit ihm.
Laura Rojas-Marcos, Spanien: Ich war sehr froh über die Solidarität unter uns Nachbarn. In meinem Wohnhaus leben zwei Ärzte, die den ganzen Tag im Krankenhaus waren. Diejenigen, die zu Hause arbeiteten, haben für sie gekocht und ihnen das Essen vor die Tür gestellt.
Sara Reginella, Italien: Einsamkeit ist schon ein Thema für mich. Ich teile meine Wohnung nur mit zwei Katzen.
Dilara Nafisi, Iran: Mir war schnell klar, dass ich meine Routine aufrecht halten muss. Also bin ich laufen gegangen, habe zu Hause meine Übungen gemacht. Ich habe mich gesünder ernährt. Mich online mit meinen Freundinnen ausgetauscht.
Laura Rojas-Marcos, Spanien: Ich habe mit Tai-Chi begonnen. Das hat dafür gesorgt, dass ich nachts schlafen konnte.
Dilara Nafisi, Iran: Ich lebe mit meiner Mutter und meiner Schwester zusammen. Meine Schwester verlässt jeden Tag das Haus, um zur Arbeit zu gehen. Ich habe versucht, zu Hause Bürostrukturen zu schaffen und nur in einem Zimmer zu arbeiten.
Laura Rojas-Marcos, Spanien: Die Auswirkungen der Pandemie werden uns Therapeutinnen mindestens noch fünf weitere Jahre beschäftigen. Manchmal hilft Humor. Und miteinander reden.
Ofer Grosbard, Israel: Mag sein, dass für viele die Normalität zurückgekehrt ist, aber mich wird das Virus noch eine Weile beschäftigen. Meine Frau hat Krebs, ihr Immunsystem ist schwach. Sie wurde geimpft, aber ihr Körper bildet nicht so viele Antikörper. Also tragen wir weiterhin eine Maske. In meiner Praxis halte ich Fenster und Türen geöffnet.
Zusammenhalt
Die Wirtschaft leidet unter den Beschränkungen der Pandemie. Ärmere Länder trifft das besonders hart. Eine Therapiesitzung wird dadurch für viele zu einem unerreichbaren Luxus. Um trotzdem für ihre Patienten da sein zu können, arbeiten viele Therapeutinnen und Therapeuten auch ehrenamtlich.
Laura Rojas-Marcos, Spanien: Ich gehöre zu einer Gruppe von Freiwilligen, die sich um Hilfe für die Krankenhäuser kümmert. Eines der größten öffentlichen Krankenhäuser in Madrid brauchte Betten. Also habe ich Ikea kontaktiert, und das Unternehmen spendete welche. Ich habe Restaurantbesitzer gebeten, für ältere Menschen zu kochen, Essen an Krankenhäuser zu liefern. Am Anfang der Pandemie gab es nicht ausreichend Sauerstoffmasken, also haben wir übers Internet verbreitet, dass wir Tauchmasken brauchen, um sie von Ingenieuren zu Sauerstoffmasken umbauen zu lassen. Es wurden Gruppen eingeteilt, die sie mit polizeilicher Erlaubnis einsammelten. Sie fuhren mit dem Auto von Haus zu Haus. Diese Solidarität hat mich beeindruckt.
Ofer Grosbard, Israel: So viele haben die Armutsgrenze überschritten. Ich habe hier in Israel beobachtet, wie Kinder versucht haben, Jobs zu finden, um ihre Eltern zu unterstützen.
Sara Reginella, Italien: Es bereitet mir ethische Probleme, denjenigen, die ihre Arbeit verloren haben, den normalen Preis für eine Therapiestunde zu berechnen. Also zahlen sie weniger.
Ofer Grosbard, Israel: Manche meiner Patientinnen wollten später bezahlen, aber der Gedanke gefällt mir nicht. Ich möchte nicht, dass sie sich mit Schulden belasten. Mir ist es lieber, wenn sie eine Zeit lang nicht zahlen.
Dilara Nafisi, Iran: Wer arm ist, zahlt bei mir entweder gar nichts oder einen Sonderpreis. Eine Sitzung kostet ungefähr zehn Dollar. Sie dauert eine Stunde, aber ich gebe den Patienten so viel Zeit, wie sie brauchen.
Sara Reginella, Italien: Wir halten durch: Im Sommer wird unsere Freiheit größer sein, und im September und Oktober werden viele geimpft sein. Es ist nicht die Familie, nicht Gott, nicht der Verstand – es ist der Sommer, der uns Hoffnung gibt.
Psyche: "Manche Menschen hat die Pandemie gebrochen" - ZEITmagazin
Read More
No comments:
Post a Comment