Jens Spahn, Bundesgesundheitsminister:
»Aus einem zu sorglosen Sommer darf kein Sorgenherbst werden.«
Es wird wieder mehr gewarnt – vor der Delta-Variante des Coronavirus.
Lothar Wieler, RKI-Chef
»Und es gibt auch größere Ausbrüche durch Delta, aber momentan noch wenige.«
Sie ist noch ansteckender als die Alpha-, ehemals »britische« Variante. Müssen wir jetzt mit einer schweren vierten Welle rechnen?
Nina Weber, DER SPIEGEL Wissenschaft:
»Es ist total schwer abzuschätzen, ob bei uns die Zahlen steigen werden oder nicht. Ich glaube, total wichtig ist, dass man sich nicht darauf verlässt, dass es so gut bleibt, wie es jetzt ist. Wir haben ja alle, glaube ich, den Fehler im letzten Sommer gemacht, wo sich alle wahnsinnig entspannt haben und gedacht haben: Irgendwie ist diese Pandemie ja gefühlt schon vorbei. Und wenn wir uns mal dran erinnern, wie lange der letzte Sommer her ist und was da dazwischen alles passiert ist, da lagen wir mit unserer Entspannung ja sehr falsch. Leider.«
Die absoluten Infektionszahlen in Deutschland sinken nach wie vor, und die meisten Bundesländer sind inzwischen bei niedrigen einstelligen 7-Tage-Inzidenzen angekommen. Der Anteil der ansteckenderen Delta-Variante unter den registrierten Infektionen steigt aber schnell:
Konnte vor einigen Wochen nur bei wenigen Prozent aller positiven Coronatests die Delta-Variante nachgewiesen werden, dürfte inzwischen etwa die Hälfte aller Fälle der Delta-Variante zuzurechnen sein, schätzt das Robert Koch Institut. In anderen europäischen Ländern hat die Delta-Variante die anderen Virusvarianten schon weit mehr verdrängt – an der Spitze liegen Portugal und Großbritannien. Aber auch in beliebten Urlaubsländern wie Spanien und Italien setzt sie sich mehr und mehr durch. Was macht die Variante B.1.617.2, die erstmals in Indien entdeckt worden war, so viel ansteckender?
Nina Weber, DER SPIEGEL Wissenschaft:
»Es ist sehr wahrscheinlich, dass Menschen, die sich die Delta-Variante eingefangen haben und sich infiziert haben, mehr Viren produzieren, mehr Viren ausscheiden. Und das ist für das Virus natürlich ein enormer Vorteil.«
Zudem überträgt sich die Delta-Variante leichter, weil sie mit den mutierten Spike-Proteinen besser an die Rezeptoren menschlicher Zellen andocken kann, um das schädliche Erbgut zu übertragen. Außerdem hat sich das Virus so verändert, dass Antikörper und T-Zellen es nicht mehr so verlässlich neutralisieren können. Die Delta-Variante wird somit im Vergleich zu anderen Varianten vom Körper schlechter als Gefahr erkannt.
Beunruhigend wirkt in diesen Tagen vor allem eine Meldung aus Australien, wo Wissenschaftler Ansteckungen mit der Delta-Variante bei sehr flüchtigen Begegnungen nachgewiesen haben wollen. In zwei Fällen hätten sich Menschen in einem Einkaufszentrum bei einer nur fünf- bis zehnsekündigen Begegnung angesteckt. Die Fälle seien durch Aufnahmen von Überwachungskameras dokumentiert.
Nina Weber, DER SPIEGEL Wissenschaft:
»Also der Fall in Australien, was der wirklich unterstreicht, ist aus meiner Sicht auch, dass es wirklich wichtig ist, dass wir die Maskenpflicht jetzt nicht überhastet abschaffen, weil eben da zu dem Zeitpunkt keine Maskenpflicht galt und dann eben diese kurze Begegnung ausreichte für eine Ansteckung.«
Wie viel ansteckender die Delta-Variante ist, darüber gibt die sogenannte R0-Zahl eine grobe Ahnung, also der theoretische Verbreitungswert in einer komplett nicht-immunen Bevölkerung, ohne jede Schutzmaßnahme.
Nina Weber, DER SPIEGEL Wissenschaft:
»Die lag bei dem Ursprungsvirus so im Bereich 2,5 bis 3. Bei der Alpha-Variante lag das schon im Bereich zwischen 3,5 und 5 und bei Delta schätzt man aber inzwischen, dass das im Bereich zwischen 5 und 7 liegt. Also wie gesagt ohne Gegenmaßnahmen auf eine immunologische ungeschützte Bevölkerung. Und das ist ja ein wichtiger Punkt: Das trifft auf uns ja beides nicht mehr zu.«
Insbesondere nach zwei Dosen scheinen die Covid-19-Impfstoffe von Biontech und AstraZeneca weiter gut vor schweren Erkrankungen durch die Viruslinie zu schützen. Die erste Impfung allein bietet dagegen nur einen geringen Schutz.
Trotz einer hohen Impfquote verzeichnet Großbritannien aber inzwischen wieder viele Tausend Fälle pro Tag, Lockerungen mussten zurückgenommen werden. In Russland breitet sich die Delta-Variante so rasant aus, dass eine Corona-Impfung jetzt für zahlreiche Berufsgruppen verpflichtend wird. Auch Indonesien kämpft gegen »Delta« mit inzwischen mehr als 400 Todesfällen pro Tag. Südafrika hat wegen einer erneuten Delta-Welle erneut Lockdowns verhängt und sogar Australien, das bisher kaum Coronafälle hatte, muss einen Delta-Ausbruch mit Hunderten Infizierten eindämmen und hat in Sydney einen vierzehntägigen Lockdown verhängt.
Müssen wir die Pandemie-Maßnahmen noch einmal komplett überdenken?
Nina Weber, DER SPIEGEL Wissenschaft:
»Es ist immer noch ein Coronavirus und es helfen dieselben Maßnahmen, die vorher auch geholfen haben. Also Abstand halten, Maske tragen, sich draußen treffen statt drinnen. Schnelltests funktionieren vielleicht sogar besser, weil man eben eine höhere Viruslast hat und deswegen Schnelltests dann auch besser anschlagen. Es geht hauptsächlich wirklich um die Luft. Es wird immer sehr viel Wert darauf gelegt, dass man, wenn man irgendwo reingeht, sich die Hände desinfiziert. Hände desinfizieren ist nicht per se schlecht, aber vor einem Virus in der Luft hilft dir halt auch eine schön desinfizierte Hand gar nichts. Da ist dann wirklich eine gut sitzende FFP2-Maske das, was man braucht.«
Immerhin: Die hohen Inzidenzen scheinen in Bevölkerungen mit relativ hoher Impfquote weniger dramatische Folgen zu haben. Ob die Delta-Variante gefährlicher oder tödlicher ist als andere Varianten, ist aber noch nicht eindeutig geklärt.
Nina Weber, DER SPIEGEL Wissenschaft:
»Das ist ja erstmal eine gute Nachricht, die man auch schon in Großbritannien sieht: Die steigenden Fallzahlen sind nicht mehr so stark gekoppelt an Todesfälle. Das wird bei uns ja auch so sein. Die Impfungen bieten da schon einen guten Schutz. Und das macht quasi steigende Fallzahlen auf der einen Seite ein bisschen weniger bedrohlich möglicherweise, aber es gibt eben auch noch genug ungeimpfte Menschen und denen hilft das ja wirklich gar nichts, dass die Menschen, die geimpft sind, jetzt nicht mehr so ein großes Risiko haben. Gerade denen gegenüber ist es, glaube ich, in unser aller Interesse, dass wir die Fallzahlen auch weiter möglichst niedrig halten.«
Selbst Israel, das bei der Impfquote gegenüber den meisten anderen Ländern weit fortgeschritten ist, hat wegen der steigenden Delta-Infektionszahlen die Maskenpflicht in Innenräumen wieder eingeführt.
Delta-Welle: »Im letzten Sommer lagen wir mit unserer Entspannung sehr falsch« - DER SPIEGEL
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