mRNA-Impfstofftechnologie ist – von diversen psychoaktiven Substanzen abgesehen – vermutlich die erste pharmakologische Innovation, die eine eigene popkulturelle Nische begründet hat. Es gibt mittlerweile zum Beispiel eine kleine, weitgehend erfolglose, aber hoch motivierte Szene, die Anti-mRNA-Musik produziert.
Die Protagonisten stammen zum Teil aus einer bizarren neuen Subkultur, die sich aus schon lange ins Reich des Verfolgungswahns abgerutschten Rappern, altbekannten Rechtsextremisten, Anhängern einer radikalen christlichen Sekte, Verschwörungserzählungs-Unternehmern und natürlich Xavier Naidoo zusammensetzt. Ein deutscher DJ produziert derweil unter Ausschluss der Öffentlichkeit Anti-Impf-Techno mit vermeintlich entlarvenden Samples von Politikern, Virologen und Angela Merkel.
Anti-mRNA-Rap als Marschmusik
Ich nenne hier jetzt keine anderen Namen, denn das Publikum ist bislang winzig, und das soll ruhig so bleiben. Fakt ist, dass zum Beispiel Rap-Tracks aus dieser Zwergszene bei Coronaskeptiker-Demonstrationen wie denen in Hamburg als Marschmusik laufen. Die Abkürzung »mRNA« kommt immer wieder vor, mit Reimen wie »das Ende ist nah« oder »die Verschwörung ist jetzt wahr«.
Die neue Impfstofftechnik ist ein zentrales Thema aller aktuellen Verschwörungserzählungen, egal, ob es angeblich um die Ausrottung weiter Teile der Menschheit oder das Implantieren von fiktiven Chips geht, ohne die man künftig angeblich nicht mehr wird einkaufen können.
Die kognitiven Abwehrmechanismen der selbst ernannten »Mitte der Gesellschaft«, die bei den Demonstrationen mit Nazis und Verschwörungstheoretikern mitläuft, müssen auf Hochtouren laufen, denn sie wird dort permanent mit paranoiden Wahnvorstellungen beschallt.
Dauerhaft schlimme Folgen
Lustig ist das alles nicht, und zwar nicht nur wegen der unausweichlichen Verlängerung der Pandemie und vielen vermeidbaren Todesfällen, die Impfverweigerung zwangsläufig hervorbringt. Die Ablehnung von mRNA-Impfstoffen durch hartgesottene Verschwörungsgläubige oder selbst ernannte Impfstoffexperten aus Sport, Unterhaltung und Kultur wird auch dauerhaft schlimme Folgen haben.
Für den Rest der Menschheit dagegen ist mRNA-Technologie eine hervorragende Nachricht. Und zwar nicht nur, weil sie unser bestes Mittel beim Kampf gegen Covid ist, Omikron zum Trotz. Diese neue Methode, Impfstoffe und maßgeschneiderte Medikamente herzustellen, wird vermutlich medizinische Erfolge möglich machen, von denen die Menschheit seit vielen Jahrzehnten träumt.
Zehntausende Fälle pro Jahr
In Arbeit sind etwa mRNA-Impfstoffe gegen Erreger wie das Zika-Virus oder Herpes zoster, das auch Gürtelrose auslöst. Gegen Herpes zoster gibt es schon einen Totimpfstoff, aber Biontech und Pfizer glauben, mit mRNA-Technik noch einen besseren entwickeln zu können. Jetzt aber geht es auch noch um ganz andere Krankheiten.
Die zweithäufigste Todesursache in Deutschland ist Krebs. Etwa 230.000 bis 240.000 Menschen fallen ihr hierzulande pro Jahr zum Opfer. Eine ganze Reihe von Tumoren, darunter bestimmte Hautkrebstypen und Formen von Leukämie, Leber- und Lymphdrüsenkrebs, werden nachweislich durch Viren (mit-)verursacht. Schätzungen darüber, wie welcher Anteil aller Krebsfälle mit Virusinfektionen zusammenhängt, reichen von 12 bis 20 Prozent. Das sind also allein in Deutschland Zehntausende Fälle pro Jahr.
Man kann sich schon gegen Krebs impfen lassen
Jugendliche sollten sich beispielsweise unbedingt gegen das sexuell übertragene Papillomavirus impfen lassen, denn es ist eine der wichtigsten Ursachen von Gebärmutterhalskrebs. Daran erkranken in Deutschland Tausende Frauen pro Jahr, und noch immer sterben jährlich etwa 1600 daran. Vor 30 Jahren waren es noch doppelt so viele. Mit einer Schutzimpfung kann man das Risiko drastisch reduzieren – impfen lassen sollten sich unbedingt auch männliche Teenager, denn auch die können durch das Virus erkranken und natürlich andere damit anstecken.
Die Papillomaviren-Impfung ist noch ein traditioneller Totimpfstoff, aber die Anti-Krebs-Impfungen der Zukunft werden mit hoher Wahrscheinlichkeit mRNA-Impfstoffe sein, manche davon Standardimpfungen, andere spezialisierte, auf das jeweilige Genom der Patientin oder des Patienten zugeschnittene. Nicht alle diese Impfungen betreffen Viren, aber alle machen Hoffnung, dass die Menschheitsgeißel Krebs in den kommenden Jahren und Jahrzehnten etwas von ihrem Schrecken verliert.
Die tödlichsten Krebsarten stehen auf der Liste
Die großen mRNA-Forschungsunternehmen wie Biontech, Moderna und Curevac arbeiten alle an diversen mRNA-basierten Krebs-Impfstoffen, die teilweise bereits in klinischen Studien getestet werden. Darunter sind in der Erprobung befindliche Mittel gegen Darm-, Haut-, Lymphdrüsen-, Eierstock-, Prostata- und sogar Lungenkrebs, die tödlichste aller Krebsarten.
Nicht alle diese Ansätze werden erfolgreich sein, aber auch Fachleute, die nicht für eine dieser Firmen arbeiten, halten die eigentlich gar nicht mehr so neue Technologie für vielversprechend und sicher. Auch nicht durch Viren verursachte Krebsarten sollen so bekämpft werden können.
Die Rolle von Viren für andere Krankheiten, die sich der modernen Medizin bis heute weitgehend entziehen, wird immer noch entschlüsselt. Diese Woche erst erschien in »Science« eine Studie, die eine schon seit Längerem bestehende Vermutung erhärtet: Das zur Gruppe der Herpesviren gehörende Epstein-Barr-Virus ist offensichtlich maßgeblich für Multiple Sklerose verantwortlich. Bekannt war schon, dass das Virus das Pfeiffersche Drüsenfieber, das manchmal schwerwiegende Folgen haben kann, auslöst, und mit diversen Krebsarten in Verbindung steht. Ab jetzt wird es auch als das MS-Virus gelten.
Eine Impfung gegen Multiple Sklerose?
Moderna führt in den USA bereits eine frühe klinische Studie mit einem mRNA-basierten Epstein-Barr-Impfstoff durch. Das Interesse an diesem und anderen Impfstoffen gegen das Virus dürfte nach der »Science«-Veröffentlichung sprunghaft ansteigen. Mehrere Hunderttausend Menschen werden allein in Deutschland wegen MS behandelt, einer quälenden Autoimmunerkrankung.
Angesichts mehrerer Millionen MS-Patienten weltweit darf ein Unternehmen, das als Erstes einen funktionierenden MS-Impfstoff auf den Markt bringt, einen enormen Erfolg erwarten. Und für die Menschheit wäre ein Mittel gegen diese Krankheit, die sehr oft junge Menschen befällt, ein uneingeschränkter Segen. Auch andere Einrichtungen, etwa das Deutsche Zentrum für Infektionsforschung arbeiten an einem Epstein-Barr-Impfstoff, allerdings noch in früheren Phase und oft mit anderen Methoden.
Abschied vom medizinischen Fortschritt?
Egal, wer hier das Rennen macht, eins kann als sicher gelten: Viele Krankheiten, die heute viel Angst, Leid und Trauer verursachen, wird man in Zukunft als beherrschbar oder ganz ausgerottet betrachten, Impfung sei Dank. So wie heute die Pocken oder Polio. mRNA-Technologie, in Verbindung mit den gewaltigen Fortschritten im Bereich der Bioinformatik, wird dabei voraussichtlich eine zentrale Rolle spielen. Und zwar schon bald, denn sie erlaubt enorm schnelle Entwicklungen.
Vielleicht lernt die Menschheit dann endlich, sich von der ohnehin absurden Fehlwahrnehmung »There's no glory in prevention« (etwa: »Kein Ruhm fürs Verhindern von Erkrankungen«) zu verabschieden.
Die rappenden, demonstrierenden und durch Talkshows tourenden mRNA-Verächter und -Phobiker werden dann vor einer schweren Wahl stehen: Halten sie an ihren Bauchgefühlen oder Verschwörungsideen fest – oder treten sie dem Teil der Menschheit bei, für den viele Krebsarten, Multiple Sklerose und andere entsetzliche Krankheiten ihren Schrecken verloren haben?
Einer der Verschwörungstheorie-Rapper, dessen Tracks die Coronademos beschallen, beschwört das Publikum: »Es geht um eure Kinder«. Das stimmt, aber gefährdet wird deren Zukunft nicht zuletzt durch Wahnpropagandisten wie ihn selbst. Die mRNA-Skeptiker und ihre Kinder werden eines Tages zu den letzten gehören, die noch an eigentlich besiegten Krankheiten leiden und sterben.
mRNA-Technologie: Die tragische Zukunft der Impfverweigerer - DER SPIEGEL
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