Eine junge Frau lässt auf einem Berggipfel einen Drachen steigen. Er wird durch Wolkenringe gesteuert, um Punkte zu sammeln – den Gewitterwolken muss er ausweichen. Wenige Augenblicke später befindet sie sich an einem weißen Sandstrand mit türkisem Wasser und spielt Beachvolleyball. Möglich sind diese Ortswechsel in der Brain Cloud 1.0 des BG Klinikums Unfallkrankenhaus Berlin (ukb). Die junge Frau ist Patientin und taucht mittels Virtual Reality (VR)-Brille sowie zwei Controllern zur Steuerung in das Videospiel ein. Nach einem schweren Verkehrsunfall, der unter anderem ein Schädel-Hirn-Trauma zur Folge hatte, muss sie vieles wieder von vorne lernen. Sprechen, Mimik, Bewegung. Dabei hilft Gamification – also die Anwendung spielerischer Elemente in einem Kontext außerhalb des eigentlichen Spiels – ergänzend zur Ergo- und Physiotherapie. Levelaufstiege und das Erreichen neuer Highscores machen erreichte Therapieziele sichtbar und steigen die Motivation der Patienten. Der Ansatz, Videospiele zu Therapiezwecken zu nutzen, ist naheliegend.

Die Idee zur Brain Cloud basiert darauf, Dinge aus dem Alltag der Patienten mit in die Therapie zu integrieren. Innerhalb von zwei Jahren entwickelte ein multiprofessionelles Team rund um Prof. Dr. Ingo Schmehl, Direktor der Klinik für Neurologie mit Stroke Unit und Frührehabilitation, das Konzept. Mediziner, Therapeuten, IT, Facility Management, Architekten, sogar die Personalabteilung wurde bei der Planung mit ins Boot geholt. Denn die neuen Therapieformen dienen auch als Anreiz, um neue Mitarbeitende für das Krankenhaus zu gewinnen. Das Ergebnis ist die ukb Brain Cloud 1.0. Dabei steht die Zahl für den Status, denn die Entwicklung geht – wie auch auf dem Gaming-Markt – stets weiter.

Reizarmes Raumkonzept

Der Raum ist hell und klar strukturiert. Weiß ist hier die dominierende Farbe, Ablenkung in Form von Bildern oder ähnlichem gibt es nicht. „Wir arbeiten hier an einem der Hauptprobleme unserer neurologischen Patienten“, beschreibt Schmehl. Sie verlieren schnell die Aufmerksamkeit und darauf liegt der Fokus in der Raumgestaltung, die unterschiedliche Therapiesettings zulässt. Die Größe der Therapieplätze ist durch semitransparente Raumteiler, die den Schall absorbieren, regulierbar. So ist in einem Bereich eine Einzeltherapie möglich, während im anderen eine Therapie mit bis zu drei Patienten möglich ist. Die Tische sind in ihrer Höhe verstellbar.

Digitale Inklusion bedeutet den Raum so zu schaffen, dass jeder trainieren kann.

Ergänzend sorgt ein Lichtkonzept für ein reizarmes Ambiente. Wenig Licht ist beispielsweise besonders angenehm für Post Covid-Patienten, berichtet der Physiotherapeut Niklas Lindemann. „Digitale Inklusion bedeutet den Raum so zu schaffen, dass jeder trainieren kann“, erklärt Schmehl das Konzept. Es ist die Voraussetzung dafür, nicht nur die Patienten, sondern auch die Betreuenden im Umgang mit digitalen Medien zu schulen. Doch auch für die unterschiedlich genutzten Technologien ist eine individuelle Beleuchtung notwendig, erklärt Anke Fierek, Referentin im Bereich Innovation und Transformation in der BG Kliniken IT Services gGmbH: „Die Technologie ist davon abhängig, damit man eine Feinjustierung vornehmen kann. Je nachdem ob man mit einer Mixed-, Virtual- oder Augmented Reality Brille arbeitet, braucht man unterschiedliche Lichteinflüsse, damit die Technik optimal funktioniert.“

ukb Brain Cloud
Scheurlen/ukb

Das Produkt Cureo funktioniert mittels VR-Technologie sowie zwei Controllern. Bei einem Spiel wird ein Drachen beispielsweise durch Wolkenringe gesteuert, was die Punkte einbringt.

Kein Schema F

Gleiches gilt für die Wahl des Spiels und des Endgeräts. Virtual Reality Brillen helfen den Patienten beispielsweise dabei, sich mehr auf die Aufgabe zu konzentrieren. Genau das fällt ihnen oft schwer. Sie schweifen ab und können den Fokus nicht auf der Aufgabe halten. „Mit VR-Brillen hat man keine Störfaktoren, sondern das Ziel vor Augen, um die Aufgabe zu erledigen“, erklärt Lindemann.

Ein „Standardschema F“ gibt es für die Therapie in der Brain Cloud also nicht, denn jeder Patient, jedes Krankheitsbild ist individuell, sodass die Therapie stets auf die jeweiligen Bedürfnisse und Beschwerden angepasst ist. Das Vorgehen beim Schädel-Hirn-Trauma erklärt der Mediziner am Beispiel einer Festplatte: „Viele Gedächtnisfunktionen sind noch vorhanden, doch ein paar Dinge sind auf der ‚Festplatte‘ kaputt“, sagt Schmehl, „wir stellen fest, welche Funktionen fehlen und schauen, welche Software und welche Firma da gezielt helfen kann.“ Flexibilität ist hier das entscheidende Stichwort, wenn es darum geht, sich auf die Einschränkungen der Patienten einzustellen. Es ist ein entscheidender Vorteil gegenüber den klassischen Therapieräumen mit einem festen Setting, das weniger Individualität zulässt. Die Geräte dort werden meist für mehrere Jahre angeschafft und auch genutzt, jedoch vergeht viel Zeit, bis etwas neues kommt.

Keine Therapiemüdigkeit

Anders in der Brain Cloud: Die Software kann bei Bedarf gekauft und direkt aufgespielt werden. „Es ist eine individualisierte, symptomorientierte Reha“, sagt Schmehl, „wir haben in der Neurologie so viele Erkrankungen mit ‚Festplattenproblemen‘, z.B. bezogen auf Sprache, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Reaktionsschnelligkeit. Ist man geistig langsam, ist man es auch körperlich.“ Auf all diese Probleme kann die Therapie individuell angepasst werden. Das Ziel ist, mit einfachsten Mitteln Alltagskompetenz zu schaffen. Und das funktioniert bei vielen Krankheitsbildern, etwa bei Hirnblutungen, oder auch nach Schlaganfällen. Durch all die Möglichkeiten, die es in der Brain Cloud gibt, kommt es auch nicht zur Therapiemüdigkeit, denn auch Motivation spielt hier eine große Rolle. Die Patienten kommen spielerisch zu Erfolgserlebnissen – sei es beim Beachvolleyball, Bowling, Boxen oder bei Strategiespielen. Es werden Münzen eingesammelt oder neue Level erreicht – während parallel die Aufmerksamkeit und Motorik verbessert werden. Zwar haben vor allem junge Menschen einen leichteren Zugang zu den Spielekonsolen, nach den bisherigen Erfahrungen gibt es jedoch keine Patientengruppe, die das Konzept nicht mag – denn jeder spielt gern, sind sich die Therapeuten einig.

Immer wieder eine Aufgabe zu wiederholen, um das Gehirn zu fördern, funktioniert über die Gamification sehr gut.

Das zeigt sich auch an der jungen Patientin. Zu Beginn ihrer Therapie konnte sie ihre Arme noch nicht frei bewegen. „Wir merken, dass sie im Verlauf der Therapie aktiver und motivierter wird. Sie bewegt sich, ohne dass wir sie dabei unterstützen müssen“, sagt Lindemann. Schritt für Schritt soll ihre Rumpfstabilität erarbeitet werden, zunächst im Sitzen. Wiederholung ist dabei besonders wichtig. „Das Gehirn hat die Fähigkeit, Bewegungen wieder neu zu lernen, dazu muss man viel trainieren und auch wiederholen. Immer wieder eine Aufgabe zu wiederholen, um das Gehirn zu fördern, funktioniert über die Gamification sehr gut“, sagt Lindemann. Das Prinzip ist ähnlich wie beim Vokabeln lernen in der Schule.

Die Therapiesitzung der Patientin ist nach etwa 40 Minuten vorbei. Die Fragen, ob ihr die Therapie gefällt und ob sie vor der Therapie schon gern gespielt hat, bejaht sie. Und dabei sieht sie glücklich aus: Sie lächelt. Keine Selbstverständlichkeit, wie der Neurologe Schmehl erklärt: „Das Schöne ist, wenn auch die Mimik wiederkommt. Die Mimik fehlt oft nach einem Koma und es ist komplex, die Muskeln zum Lachen zu aktivieren.“ Mit dem Therapiefortschritt ist er zufrieden.

Ausgezeichnetes Konzept

Klar ist: Ersetzen wird die digitale Therapie die klassische Ergo- und Physiotherapie nicht. „Therapeuten nutzen die Technik, um eine individuellere auf die Symptome abgestimmte Therapie zu konzipieren“, sagt Schmehl. Perspektivisch soll die Therapie auch nach dem stationären Aufenthalt Zuhause fortgesetzt werden, was den Therapieerfolg nachhaltig sichert. Zudem ist geplant, die Brain Cloud auch an den weiteren Standorten der BG Kliniken im stationären und ambulanten Bereich zu etablieren. Der bisherige Erfolg spricht für sich: Im Oktober 2022 wurde das Konzept mit dem Rotthaus Klinik Award als „Digitale Innovation“ ausgezeichnet. „Das ist für uns Ansporn, weiter solche innovativen digitalen Angebote, die auf der Gaming-Technologie beruhen und spielerisch rehabilitieren, einzusetzen, zu evaluieren und die Behandlung unserer Patientinnen und Patienten auf neuen Wegen erfolgreich fortzuführen“, kommentierte Schmehl im Oktober die Auszeichnung.

Technische Herausforderungen

Die ganze Brain Cloud ist nicht nur in ihrer Architektur, sondern auch in ihrer technischen Ausstattung gut durchdacht. Wichtiger Bestandteil neben den Konsolen sind die digitalen Visitewagen, wie man sie aus dem Stationsalltag kennt. Da die Patientendokumentation am ukb komplett digitalisiert ist, kann die ganze Therapie in der Brain Cloud dokumentiert und Befunde aufgerufen werden.

Neben den Spielekonsolen gibt es außerdem Bildschirme, über die alle Elemente im Raum angesteuert werden können: die Beleuchtungsmodule, aber auch die einzelnen Spielekonsolen. Einzelne Elemente können dank des modularen Konzepts jederzeit weiterentwickelt oder ausgetauscht werden. In der Brain Cloud gibt es zwei Komponenten, die zum Einsatz kommen. Zum einen die klassische Consumer-IT, wie man sie von Zuhause kennt, etwa Playstation, Xbox oder Nintendo Switch. „In diesen Spielen steckt der Anreiz, sie für therapeutische Zwecke zu nutzen“, erklärt Fierek. Auf der anderen Seite gibt es die Digitalen Gesundheitsanwendungen (Di-GAs), von denen es die ersten Produkte am Markt gibt. Sie wurden im Team erprobt, die Wahl fiel am Ende auf zwei Produkte. „Das ist aber der Projektstart, denn da ist viel Bewegung drin“, so Fierek. Oftmals müsse man schauen, welches Start up sich am Markt hält und wer die Entwicklungsschritte, die in der Therapie gebraucht werden, mitgehen kann.

Sämtliche Anwendungen wurden zunächst umfangreich auf Herz und Nieren geprüft. „Dabei mussten wir feststellen: Was mit viel Marketing gut beworben wird, hat nicht immer den Reifegrad, den wir uns vorstellen“, sagt Fierek. Viele Produkte wären zwar gut für die weitere Nutzung zu Hause geeignet, bieten aber nur ein begrenztes Angebot für den Einsatz in der Klinik– umgekehrt eignen sich andere Produkte ideal für den Therapiealltag in der Klinik, jedoch weniger für Zuhause. Eine dieser Anwendungen ist das VR-Therapiesystem Cureo von Cureosity. Mit dem Unternehmen gibt es einen engen Austausch und Feedbackschleifen. Konkrete Verbesserungsideen, die etwa auf die Bedürfnisse von Long Covid-Patienten zugeschnitten sind, kommen beispielsweise von den Therapeuten selbst. Jedoch gibt es auch technische Herausforderungen im Bereich der DiGAs. „Wir treffen oft auf isolierte Systeme, die ganz auf unterschiedliche Technologien setzen“, erklärt Fierek. Das führt dazu, dass viele Geräte angeschafft werden, die erstmal nur in ihrem eigenen isolierten System funktionieren. Gerade für Start ups sei es einfacher im abgekapselten System zu arbeiten, „im Sinne der Digitalisierung bringt uns das langfristig aber nicht weiter“. Deshalb wird versucht, die Marktteilnehmer darauf zu trimmen, dass am Ende vieles über eine Gesamttechnologie läuft.

Ein weiteres Thema sind die Daten, die durch die Therapien generiert werden. So sind Bewegungsamplituden milimetergenau messbar und auch Brillen, die mit Eye Tracking funktionieren, liefern hilfreiche Informationen zu bestimmten Krankheitsbildern mit Gesichtsfeldeinschränkungen. „Es gibt völlig neue Möglichkeiten, die Therapieansätze im Erfolgssinne zu bewerten und auf Basis dieser Infos langfristig steuern zu können“, erklärt Fierek. Der Datenschutz und die IT-Sicherheit haben dabei oberste Priorität. So laufen die Systeme streng isoliert in einem eigenen Wlan, eigene Benutzerkonten für die Patienten gibt es nicht. Die Daten können zwar ausgelesen, aktuell aber nicht übertragen werden.

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