Fast jeder zweite Fall von Demenz liesse sich verhindern, so das Ergebnis einer Studie vor wenigen Jahren. Weil wirksame Behandlungen fehlen, ruhen alle Hoffnungen auf der Prävention. Doch wie genau funktioniert sie?
Unsere Gene sind Schicksal, das Verhalten nicht. Für unser persönliches Alzheimerrisiko ist das relevant. Vor wenigen Jahren ist eine Studie zum Schluss gelangt, dass zwölf vermeidbare Risikofaktoren wie zum Beispiel Rauchen oder Diabetes rund 40 Prozent aller Demenzerkrankungen erklären können. «Alzheimer zu 40 Prozent durch den Lebensstil verhinderbar», so lautet seither die frohe Botschaft. «Es ist eine positive Nachrichten-Story, die Leute mögen das», sagt Lisa Bransby von der Monash University in Melbourne (Australien).
Aber stimmt sie auch? Können wir zum Beispiel mit Joggen und Gemüse eine Demenz abwenden? Die Epidemiologin Bransby ist der Frage nachgegangen, wie einfach sich die Risikofaktoren in Wahrheit verändern lassen. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Menschen vieles, aber längst nicht alles in der Hand haben, um ihr persönliches Alzheimerrisiko zu senken.
Ungünstige Genvarianten
Der wichtigste Risikofaktor für eine Demenz ist das Alter. Fast jede dritte Person im Alter von über 85 ist betroffen. Auch Erbfaktoren spielen eine Rolle – etwa das Apolipoprotein-E-Gen (ApoE). Wer zwei Kopien der ApoE4-Variante geerbt hat, weist ein fünfzehnmal so hohes Alzheimerrisiko auf wie jene mit zwei Kopien der ApoE2-Variante. Das Geschlecht hat ebenfalls einen Einfluss: Frauen tragen das grössere Risiko.
Diese Eigenschaften lassen sich nicht verändern, die zwölf Risikofaktoren hingegen schon. Dazu gehören allerdings auch Dinge wie Hörverlust oder tiefes Bildungsniveau, die sich nicht ohne weiteres vermeiden lassen. «Sich vorzunehmen, weniger Alkohol zu trinken, ist sehr viel einfacher, als die Luftverschmutzung am Wohnort zu senken oder das Bildungsniveau zu heben», sagt Bransby. Sie unterscheidet deshalb zwischen Risikofaktoren, die auf individueller Ebene modifizierbar sind, und solchen, für die Interventionen auf gesellschaftlicher oder politischer Ebene nötig wären.
Einen einzigen wichtigsten Risikofaktor gebe es nicht. «Der ist für jeden Menschen anders», sagt Bransby. Auf individueller Ebene sei es sicher sinnvoll, bei den kardiovaskulären Risikofaktoren wie Bluthochdruck oder Diabetes anzusetzen, da sie sich auch sonst auf die Gesundheit auswirkten.
Ein äusserst wirksamer Hebel, um einer Demenz entgegenzuwirken, ist die Behandlung der Schwerhörigkeit. Laut einer Hypothese ziehen sich Menschen, die schlecht hören, zunehmend aus ihrem Sozialleben zurück. Aufgrund der sinkenden Zahl von Reizen nimmt dabei die Hirnleistung ab. Wie eine neue Studie zeigt, weisen Personen mit Hörverlust ein um 36 Prozent erhöhtes Demenzrisiko auf. Je stärker die Schwerhörigkeit, umso höher das Risiko. «Wenn man die Leute überzeugen kann, zum Arzt zu gehen und sich ein gutes Hörgerät machen zu lassen, hat man schon viel erreicht», sagt Ansgar Felbecker von der Klinik für Neurologie am Kantonsspital St. Gallen.
Ebenfalls wichtig ist der Bluthochdruck. «Man spürt nichts, er tut nicht weh, man lebt während Jahren scheinbar gut», so Felbecker. «Doch der Bluthochdruck schadet dem Gehirn mehr als dem Herz.» Bei hohem Blutdruck seien in der Bildgebung weisse Flecken sichtbar, sogenannte Leukenzephalopathien, die Durchblutungsstörungen in den Tiefen des Gehirns verursachten. «Mit der Zeit wird das Netzwerk gestört, die Informationen gelangen nicht mehr von A nach B, und so schwindet auch die Fähigkeit, in Zusammenhängen zu denken.»
Experten vermuten, dass die konsequentere Behandlung von Bluthochdruck in den letzten Jahrzehnten ein Grund dafür ist, warum die Demenz heute in höherem Alter auftritt. «Vergleicht man Kohorten von vor 80 Jahren mit denen von heute, sieht man, dass die Demenzprävalenz nicht ganz so stark gestiegen ist, wie man vom Bevölkerungswachstum her erwartet hätte», sagt Felbecker.
Auch auf die körperliche Aktivität kann man individuell einwirken. «Als isolierter Faktor ist sie zwar nur für etwa 2 Prozent der Demenzprävalenz verantwortlich, hat aber viele sekundäre positive Effekte auf Bluthochdruck und Herzgesundheit», sagt Felbecker. Die Sportart sei aber entscheidend. «Wenn man etwa beim Boxen Schläge auf den Kopf bekommt und Hirnverletzungen erleidet, dann erhöht das wiederum das Demenzrisiko.»
Fachleute warnen derweil vor zu optimistischen Schätzungen. Denn noch sei unklar, ob es tatsächlich einen kausalen Zusammenhang zwischen Demenz und den genannten Risikofaktoren gebe. «Diese korrelieren zwar mit der Demenzprävalenz, es hat aber noch niemand bewiesen, dass man durch Veränderung der Risikofaktoren eine Demenz tatsächlich verhindern kann», sagt Lisa Bransby.
Möglich sei auch eine umgekehrte Kausalität. Wenn körperliche Aktivität mit einem verminderten Demenzrisiko einhergeht, könnte das auch damit zu tun haben, dass sich Menschen mit einer beginnenden Demenz weniger bewegen. Dann würde die Empfehlung, mehr Sport zu machen, nicht viel bringen. Ähnlich könnte es sich mit der sozialen Isolation verhalten. «Sind die vermeintlichen Risikofaktoren Folge einer bereits bestehenden Krankheit? Das wissen wir nicht», sagt Bransby.
Um diese Fragen zu beantworten, sind umfassende Studien nötig. Diese werden aber bis jetzt erst bei älteren Personen gemacht und dauern im besten Fall einige Jahre. Unser Gesundheitsverhalten entwickelt sich jedoch bereits früh im Leben, die Schäden akkumulieren über die Jahre. «Es ist deshalb fraglich, ob gesünderes Essen im mittleren Alter über einen kurzen Zeitraum einen Effekt auf die Demenz haben wird, wenn man sein ganzes Leben lang ungesund gelebt hat», sagt Bransby.
Die Frage der Eigenverantwortung
Idealerweise sollten Risikofaktoren so früh wie möglich angegangen werden. Eine wichtige Botschaft aus der Arbeit von Bransby ist denn auch: Die Leichtigkeit, mit der sich ein Risikofaktor vermeiden lässt, hängt stark von den Lebensumständen der Menschen ab. «Für jemanden, der gebildet ist und Geld hat, ist es einfacher, gesunde Lebensmittel zu kaufen oder an verkehrsberuhigter Lage zu leben», sagt Bransby. «Demenzprävention hat deshalb viel mit gesundheitlicher Ungleichheit zu tun.» Tatsächlich zeigen Studien, dass ein geringerer sozioökonomischer Status mit einem erhöhten Demenzrisiko einhergeht.
Für den Bioethiker Timothy Daly von der Universität Sorbonne in Paris hat der derzeitige Fokus auf einen gesunden Lebensstil aber auch einen fragwürdigen Effekt. «Botschaften, die auf das individuelle Verhalten abzielen, könnten die derzeit bestehende Ungleichheit noch verstärken, weil jene mit mehr Ressourcen eher in der Lage sind, ihr Verhalten dauerhaft zu ändern», sagt er. «Wird jemand, der im gleichen Problemviertel wohnt, in dem er schon immer gelebt hat, und denselben Stressjob ausübt, plötzlich Sport treiben, nur weil ihm das die Gesundheitsbehörde sagt? Wohl kaum.»
Die Demenzprävention in ihrer derzeitigen Form krankt laut Daly daran, dass sie «tiefer liegende soziale und strukturelle Probleme mit einem Pflaster überdeckt». Er bemüht dafür die Metapher des Eisbergs. Der sichtbare Teil, ob zum Beispiel jemand rauche oder übergewichtig sei, sei nur ein Teil des Problems. Verborgen blieben die Lebensumstände, Umweltbedingungen und Denkweisen, die diese Risikofaktoren begünstigten. «Studien zeigen, dass individualistische Empfehlungen zur Veränderung des Gesundheitsverhaltens nicht sehr wirksam sind», sagt er.
Tatsächlich könnten die tief hängenden Früchte in Bezug auf die Demenzprävention dank rigoroser Behandlung von Risikofaktoren wie Bluthochdruck grösstenteils bereits geerntet worden sein, zumindest in der westlichen Welt, wie ein Artikel der «Financial Times» vor kurzem darlegte. Mehr Spielraum für Verbesserungen gebe es in benachteiligten Regionen sowie in ärmeren Ländern.
Auch die WHO anerkennt inzwischen die Bedeutung von sozialen Einflüssen bei der Demenzprävention. In ihrem im 2022 veröffentlichten «Blueprint for Dementia Research» heisst es, dass «ein besseres Verständnis der Risikofaktoren für Demenz, einschliesslich der verschiedenen gesundheitlichen, sozialen und umweltbedingten Faktoren für die Gesundheit des Gehirns», nötig sei.
Mit ihrer Studie hat Bransby die Diskussion um die Demenzprävention neu lanciert. «Die Sache mit den vermeidbaren Risikofaktoren ist sehr kompliziert, weil wir alle unterschiedliche Gesundheitszustände, unterschiedliche Lebensstile und auch unterschiedliche genetische Risikofaktoren haben», sagt sie. «Wie spielt das alles zusammen, um zu bestimmen, ob jemand Demenz bekommt oder nicht?» Man könne ihr vorwerfen, dass sie die Dinge schwarzmale. «Aber das Gegenteil ist wahr. Wenn wir Antworten auf diese Fragen haben, kommen wir dem Ziel ‹40 Prozent weniger Demenz› vielleicht ein Stück näher.»
Kann man sich vor Alzheimer schützen? - Neue Zürcher Zeitung - NZZ
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