Frankfurt Mit ihren erfolgreichen Covid-Vakzinen haben die Biotechfirmen Biontech und Moderna die Impfstoffentwicklung fast im Handstreich revolutioniert und die mRNA-Technologie im Pharmasektor etabliert. Protagonisten der Biotechfirmen und auch viele externe Fachleute sehen Wirkstoffe aus Boten-Nukleinsäuren (messenger-RNA) nun auch in anderen Bereichen der Medizin vor dem Durchbruch. Biontech-Chef Ugur Sahin etwa schätzt, dass in 15 Jahren ein Drittel aller neu zugelassenen Arzneimittel auf der mRNA basieren könnte.
Das Potenzial ergibt sich aus den besonderen Eigenschaften des Biomoleküls mRNA und seiner Rolle als Informationsträger zwischen Genen und den Proteinfabriken der Zellen, den sogenannten Ribosomen. Das Molekül kann daher im Prinzip als eine Art „Software“ zur Steuerung von Stoffwechselvorgängen in den Zellen genutzt werden und bietet insofern die Perspektive einer flexibleren, kostengünstigeren Produktion und Entwicklung von Arzneien.
Denn die Körperzellen der Patienten, so die Vision, können im Prinzip zu Pharmafabriken umfunktioniert werden. Die Covid-Vakzine sind dafür die erste praktische Anwendung, der viele weitere folgen könnten.
Diese Erwartung spiegelt sich inzwischen sowohl in den sehr hohen Bewertungen für mRNA-Firmen als auch in den Strategien etlicher Big-Pharma-Konzerne wider. Sanofi etwa verstärkte sich vor wenigen Wochen mit der Übernahme seines US-Partners Translate Bio für rund 3,2 Milliarden Dollar. Für den französischen Pharmariesen geht es dabei nicht nur darum, im Impfstoffbereich Anschluss zu halten, wie Firmenchef Paul Hudson deutlich machte: „Unser Ziel ist es, das Potenzial der mRNA in anderen strategischen Bereichen wie Immunologie, Onkologie und seltenen Erkrankungen zu erschließen.“
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Konkurrenten wie Roche, Glaxo-Smithkline (GSK), Astra-Zeneca oder Pfizer setzen unterdessen vor allem auf ihre Kooperationen mit den mRNA-Pionieren aus dem Biotechsektor So rasant wie bei Impfstoffen dürfte der Umbruch im Medikamentenbereich allerdings kaum verlaufen. Denn ungeachtet der Erfolge sind noch einige Hürden zu meistern.
Technologie ist immer noch in einer frühen Phase
Die mRNA-Therapien befinden fast durchweg noch in den frühen klinischen Testphasen oder in der präklinischen Entwicklung. Zudem deutet sich an, dass die mRNA-Medizin ihren stärksten Effekt womöglich in Kombination mit anderen Technologien und etablierten Arzneiwirkstoffen entfalten wird. Das schlägt sich inzwischen in den Akquisitions- und Partnering-Strategien der mRNA-Pioniere nieder. Vor allem diese Bereiche zeichnen sich als Anwendungsfelder für Arzneiwirkstoffe auf Basis von mRNA ab:
Therapeutische Vakzine gegen Krebs: Dieses Einsatzfeld ist am engsten mit den Covid-Impfstoffen verwandt. Denn auch hier geht es darum, die Immunabwehr mithilfe von mRNA zu aktivieren – allerding nicht zur Vorbeugung gegen eine Erkrankung, sondern als Wirkstoff gegen eine bereits manifestierte Erkrankung. Das Grundprinzip besteht darin, den Immunzellen mithilfe von mRNA Erkennungsmerkmale von Krebszellen zu vermitteln.
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Vor allem Biontech testet bereits eine ganze Reihe solcher mRNA-Krebsvakzine in klinischen Studien. Am weitesten vorangeschritten sind die Arbeiten an mehreren mRNA-Produkten, die Biontech unter der Bezeichnung Fixvac in Kooperation mit Sanofi entwickelt. In diesem Fall liefern die Moleküle den Code für Oberflächen-Proteine, die typischerweise auf bestimmten Tumoren vorkommen. Für zwei dieser Fixvac-Produkte, potenzielle Medikamente gegen Hautkrebs sowie gegen bestimmte Kopf- und Halstumore, sind kürzlich sogenannte Phase-2-Studien angelaufen.
Ein zweites wichtiges Projekt von Biontech im Bereich von Tumorvakzinen sind individuell angepasste mRNA-Impfstoffe, die gegen Mutationen auf Tumorzellen gerichtet sind, die nur bei dem jeweiligen Patienten auftreten. Auch bei diesem Projekt, das die Mainzer in Kooperation mit dem Schweizer Pharmariesen Roche vorantreiben, sollen noch in diesem Jahr erste Phase-2-Studien anlaufen, gegen Hautkrebs und Darmkrebs. Ebenso wie Biontech arbeiten auch Moderna und Curevac an verschiedenen Krebsvakzinen auf Basis von mRNA.
Therapeutische Proteine: Dabei handelt es sich im Prinzip um ein besonders naheliegendes und potenziell auch sehr breites Einsatzfeld. Da mRNA die Produktion von Proteinen in den Zellen steuert, können auf diese Weise theoretisch auch therapeutische Proteine im Körper von Patienten erzeugt werden. Dazu gehören zum Beispiel die Antikörper-Präparate, wie sie heute bereits in vielfältiger Weise bei der Behandlung von Krebs, Autoimmunerkrankungen wie Rheuma und auch bei manchen Infektionskrankheiten eingesetzt werden.
Moderna etwa testet einen mRNA-Wirkstoff, der die Produktion von Antikörpern gegen die in Afrika und Asien verbreitete Infektionskrankheit Chikungunya anregt. Darüber hinaus arbeitet das US-Unternehmen an Protein-Ersatztherapien gegen seltene Erbkrankheiten. Ziel ist es dabei, via mRNA die Produktion von Proteinen anzustoßen, die bei den Patienten aufgrund von genetischen Defekten fehlen.
Mit einer ähnlichen Strategie entwickelt Translate Bio eine mRNA-Therapie gegen Cystische Fibrose. Diese erbliche Lungenerkrankung wird durch ein defektes oder fehlendes Protein ausgelöst, das den Flüssigkeitstransport in den Zellen reguliert. Die mRNA soll in diesem Fall den Bauplan für das korrekte Protein in die Lungenzellen liefern.
Biontech hat unterdessen in diesem Jahr erste klinische Tests mit sogenannten Ribocytokinen gestartet. Dabei handelt es sich um mRNA-Wirkstoffe mit dem Code für bestimmte Signalmoleküle des Immunsystems (Cytokine).
Einsatz in der Gentechnologie: Nach und nach zeichnet sich ab, dass mRNA auch im Bereich der regenerativen Medizin sowie bei Gen- und Zelltherapien eine wichtige Rolle spielen könnte. So zum Beispiel als Vehikel für die Genom-Editierung mithilfe der Genschere Crispr/Cas. Auf optimierte mRNA-Konstrukte für den Einsatz von Crispr beim Menschen zielt etwa eine Allianz, die Curevac bereits 2017 mit Crispr Therapeutics vereinbart hat. Diese Arbeiten befinden sich allerdings noch im präklinischen Stadium. Ebenfalls in präklinischer Phase arbeitet Biontech an mRNA-Produkten, die Zelltherapien gegen Krebs verstärken könnten.
Deutlich weiter ist unterdessen die US-Firma Moderna mit einem regenerativen mRNA-Wirkstoff, der die Durchblutung des Herzens verbessern soll. In diesem Fall zielt die mRNA darauf, die Produktion des Wachstumsfaktors VEGF im Herzen anzuregen, der das Wachstum von neuen Blutgefäßen steuert. Der Wirkstoff, den Moderna zusammen mit Astra-Zeneca entwickelt, befindet sich aktuell in einer Phase-2-Studie mit einigen Dutzend Patienten und wird in Verbindung mit Bypass-Operationen verabreicht.
Die Vielfalt der Projekte und die ehrgeizigen Ambitionen dürfen indessen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die mRNA-Therapien noch mit erheblichen Unwägbarkeiten verbunden sind. Anders als bei Impfstoffen hat die Technologie in der Behandlung von Krankheiten bisher noch keinen durchschlagenden Beleg geliefert, dass sie erfolgreich ist (Proof of Concept). Wie gut die mRNA-Produkte hier funktionieren, werden erst die Studien in den nächsten Jahren zeigen.
Ebenso wie bei allen anderen Medikamenten wird es auch bei den mRNA-Wirkstoffen darauf ankommen, dass sie die richtigen molekularen Ziele ansteuern und keine gravierenden Nebeneffekte erzeugen. Eine Hürde dürfte auch darin bestehen, die mRNA-Konstrukte in die richtigen Organe und Zellen zu bringen.
Die hohe Dosierung ist eine Herausforderung
Eine andere Herausforderung könnte sich in der Dosierung ergeben. Denn diese wird bei vielen Therapien deutlich höher sein müssen als bei den Impfstoffen. Moderna zum Beispiel testet sein mRNA-Medikament gegen Chicungunya in einer Dosierung von sieben Milligramm. Das heißt: es wird hier 70-mal so viel mRNA verabreicht wie beim Covid-Vakzin des US-Unternehmens (100 Mikrogramm). Wie verträglich längerfristige Therapien mit hochdosierten mRNA-Wirkstoffen sind, ist bisher noch kaum erprobt.
Vor allem in der Krebstherapie zeichnet sich zudem ab, dass die mRNA-Therapien ihr Potenzial in Kombination mit anderen Wirkstoffen und Technologien entfalten werden. Sowohl Biontech als auch Moderna testen ihre Krebsvakzine daher intensiv zusammen mit sogenannten Checkpoint-Inhibitoren, einer bereits etablierten Klasse von Krebsimmunmedikamenten auf Basis von Antikörpern.
Biontech hat seine Forschung ohnehin deutlich über mRNA hinaus verbreitert und arbeitet auch an Zelltherapien sowie klassischen Arzneiwirkstoffen auf Basis von Proteinen und kleinen, chemisch synthetisierten Molekülen. Zuletzt erwarb das Mainzer Unternehmen eine Entwicklungseinheit für T-Zell-Therapien samt Produktionsanlagen von der US-Firma Kite, einer Tochter des Biotechkonzerns Gilead.
Der US-Konkurrent Moderna versteht sich zwar nach wie vor als reinrassiger mRNA-Spezialist. Man liebe das Informationsmolekül mRNA zu sehr und habe kein Interesse an „analogen Molekülen“ wie Proteinen oder klassischen Arzneiwirkstoffen, erklärte Firmenchef Stéphane Bancel im jüngsten Analysten-Call.
Zugleich signalisierte er aber ebenfalls Interesse, „den Horizont zu erweitern“ und die Bereitschaft, die hohen Erträge aus dem Covid-Geschäft in ergänzende Technologien und eventuell auch Akquisitionen zu investieren. Interessiert sei man zum Beispiel an Nukleinsäure-Technologien, Gentherapie und Genom-Editierung.
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