Keine Wirkung ohne Nebenwirkung, heißt es. Tatsächlich sind die meisten Therapien auch mit Nebenwirkungen verbunden. Nicht jeder bekommt sie. Und dann kommt es auch noch darauf an, wie schwerwiegend diese Nebenwirkungen sind. Die Nutzen-Risiko-Balance muss für den Patienten passen.
Absetzen: hier nicht möglich
Treten unerwünschte und nicht akzeptable Nebenwirkungen auf, dann setzt man für gewöhnlich das Medikament ab und behandelt eventuell durch die Nebenwirkungen aufgetretenen Symptome. Bei einem der wichtigen Wirkstoffe gegen Multiple Sklerose ist das jedoch schwierig: Alemtuzumab (Handelsname Lemtrada) wird im besten Fall nur zweimal im Leben gegeben (im ersten Jahr 5 mal 12 mg , im 2. Jahr 3 mal 12 mg per Infusion jeweils an 5 bzw. 3 aufeinanderfolgenden Tagen), schon nach dem ersten Einnahme-Durchlauf hält die Wirkung an – gewissermaßen wie ein Kippschalter. Das gilt leider auch für potenzielle Nebenwirkungen. Ein Absetzen ist hier nicht möglich. Einmal im Körper, verrichtet das Medikament seine Arbeit.
Umso besser wäre es in diesem Fall, wenn man Patienten, die potenziell mit Nebenwirkungen zu rechnen haben, vorher erkennen könnte. Diesen Patienten würde man zu einem anderen Medikament raten. Im Falle von Alemtuzumab gehören zu diesen unerwünschten Nebenwirkungen zum Beispiel
- eine Autoimmunerkrankung der Schilddrüse
- Schäden an Blutzellen, z.B. eine Idiopathische thrombozytopenische Purpura (ITP) und
- der Niere, z.B. die Anti-GBM-Krankheit.
Alles drei sind weitere Autoimmunerkrankungen, die unter Umständen eine lebenslange Behandlung nach sich ziehen. Autoimmunerkrankungen der Schilddrüse sind derzeit im Beipackzettel von Alemtuzumab immerhin als „sehr häufig“ beschrieben, das bedeutet mehr als 10 % der Behandelten entwickelt eine solche Erkrankung.
Patienten mit Nebenwirkungspotenzial erkennen
Forscher aus Münster, Düsseldorf, Mainz und London fanden jedoch Hinweise auf einen Biomarker für gefährdete Patienten. Dazu untersuchten sie Blut und Nervenwasser von 100 MS-Patienten jeweils vor der Behandlung mit Alemtuzumab und danach. Bereits 2019 gelang es den Wissenschaftlern, einen Biomarker zu finden, der eine Schilddrüsenerkrankung als Nebenwirkung vorhersagen kann. Die Durchflusszytometrie, ein relativ neues Verfahren, half dabei, in einer erneuten Studie das Repertoire an T- und B-Zellen genauer unter die Lupe zu nehmen. In Kombination mit den Ergebnissen der ersten Untersuchung zeigte sich, dass jene T- und B-Zellen, die bei einzelnen Patienten später für eine zweite Autoimmunerkrankung (siehe oben) verantwortlich waren, sich bereits vor der Behandlung mit Alemtuzumab im Blut der Patienten befanden.
Es scheint also, als habe Alemtuzumab diese Zweit-Autoimmunitäten nicht tatsächlich ausgelöst, aber sie an die klinisch wahrnehmbare Oberfläche gebracht. Angelegt waren die passenden Zellen dafür bereits.
Mehr Sicherheit für übrige Patienten
Der Vorteil für künftige Patienten, sollte sich dieser „Test“ als sicher erweisen: Man könnte jene Patienten, die eine (womöglich gefährliche, zumindest behandlungsintensive) weitere Autoimmunerkrankung entwickeln können, bereits vor Beginn einer Therapie ausfindig machen und ihnen ein anderes MS-Medikament ohne diese Nebenwirkungen anbieten. Diejenigen Patienten ohne positives Testergebnis bräuchten mit weniger und weniger gravierenden Nebenwirkungen zu rechnen.
Bis der Biomarker zum Standard vor einer anvisierten Therapie mit Alemtuzumab erhoben wird (so er sich als nützlich erweist), wird es sicher noch einige Zeit dauern. Der erste Schritt dahin ist jedoch getan.
Die aktuelle Studie basiert auf dem Konzept von Prof. Heinz Wiendl und Prof. Sven Meuth für das KKNMS-Projekt PROGRAMS Prognostische und Therapeutische Marker.
Alemtuzumab ist ein monoklonaler Antikörper, der bei (hoch-) aktiven MS-Patienten als Drittlinienmittel eingesetzt wird und unter die höchste Wirksamkeitskategorie (3) fällt. Es zerstört zuverlässig Immunzellen (vor allem T-, B- aber auch Fresszellen) mit dem Protein CD52 an ihrer Oberfläche. Das Immunsystem wird also teilweise zurückgesetzt und baut sich danach "richtig" wieder auf. Andere Autoimmunerkrankungen (die verursachenden Zellen) scheint es jedoch beim Wiederaufbau mitunter zu verstärken.
Quelle: Brain, 03.06.2022.
Redaktion: AMSEL e.V., 07.06.2022
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