Eigentlich sollte 2020 für die Masernbekämpfung ein großes Jahr werden. Weite Teile der Welt, so das Ziel, sollten masernfrei sein. Als die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 2012 diesen Plan ausgab, ging der Kampf gegen die Krankheit so gut voran, dass die Ausrottung der Krankheit erreichbar schien. Die Zahl der Maserntoten weltweit sank aufgrund der Impfung weiter und weiter: von 2,6 Millionen im Jahre 1963 auf 90.000 im Jahre 2016.

Am Ende aber kam es ganz anders. 2020 ging als das Jahr in die Geschichte ein, in dem ein neues Virus erschien und die Welt lahmlegte. In dem Kinder vielerorts monatelang nicht in die Schule gingen, Gesundheitssysteme an ihre Belastungsgrenze kamen – und andere Gesundheitsprobleme aus dem Blick gerieten. So auch die Masern.

Die erleben weltweit gerade ihr Comeback. Zwischen 2016 und 2019 stieg die Zahl der Maserntoten um 50 Prozent auf über 200.000. Und neue Daten zeigen, dass dieser Trend anhalten dürfte: Rund 17.000 Masernfälle registrierten die WHO und das Kinderhilfswerk Unicef im Januar und Februar 2022. Fast doppelt so viele wie ein Jahr zuvor.

"Das ist eine dramatische Situation", sagt Maximilian Gertler, der als Arzt und Epidemiologe am Tropeninstitut der Charité Berlin zur Bekämpfung von Epidemien forscht und arbeitet. "Dieser Anstieg bedeutet Zehntausende Kinder, die einen vermeidbaren Tod sterben werden."

Eine Masernerkrankung verläuft besonders bei Kindern in den meisten Fällen zwar glimpflich, kann aber zu Komplikationen wie Mittelohr-, Lungen- und Hirnhautentzündung führen. Noch gefährlicher wird es, wenn Masern geschwächte, mangelernährte und an anderen Krankheiten leidende Kinder treffen oder wenn Komplikationen wie etwa eine Lungenentzündung nicht gut behandelt werden können, weil medizinische Hilfe schlicht unerreichbar ist. "Die Sterblichkeit kann hier zehnmal höher sein", sagt der Mediziner Gertler.

Flucht und Ausbruch

Dazukommt: Selbst wenn eine Masernerkrankung milde verläuft, schwächen die Viren die körpereigene Abwehr. Sie werfen das Immunsystem zurück, indem sie bestimmte Zellen zerstören, die sich an bereits bekannte Angreifer erinnern sollten. So sind Erkrankte anfälliger für andere Krankheiten. Nicht nur für Wochen oder Monate, sondern mitunter für Jahre, wie Studien belegen (Science: Mina et al., 2019).

Was gegen all das hilft, ist die Masernimpfung. Sie schützt sehr wirkungsvoll, zwei Pikse reichen für einen lebenslangen Schutz. Das Werkzeug, um die Welt von den Masern zu befreien, gibt es also längst. Warum also erleben die Masern trotzdem ihr Comeback?

Ein Grund ist, dass Masern zu den ansteckendsten Krankheiten überhaupt zählen. Schon nach kurzer Zeit in der Nähe einer kranken Person stecken sich fast alle an, die ungeimpft sind. Kommen viele Menschen ohne Impfschutz auf engem Raum zusammen, entstehen sehr schnell Ausbrüche.

Und tatsächlich ereignen sich viele Ausbrüche gegenwärtig, wenn Menschen fliehen müssen oder auf engem Raum in Lagern ausharren. So etwa in Somalia: Nach vier schlechten Regenzeiten und einer Heuschreckeninvasion sind viele Menschen dort mit Wasserknappheit und Ernteausfällen konfrontiert und suchen in Städten und oft überfüllten Lagern Hilfe. Ärzte ohne Grenzen dokumentierte hier seit Anfang des Jahres über 6.000 Masernfälle.

Weltweit steigt die Zahl der Menschen, die vor Gewalt und politischer Verfolgung fliehen müssen, bewaffnete Konflikte nehmen zu und erschweren die Umsetzung von Routineimpfungen und Impfkampagnen. "Die Corona-Pandemie wirkte auf diese Entwicklung jetzt wie ein Katalysator", sagt Gertler. Wenn alle zu Hause bleiben und Kontakte vermeiden sollen, ist eine Impfkampagne schwierig zu organisieren. Vielerorts wurden außerdem Schulen geschlossen, Arztbesuche für Vorsorgeuntersuchungen und Routineimpfungen aus Vorsicht lieber verschoben.

Unterbrechungen von Impfkampagnen: So schlimm wie Ebola

Eine ähnliche Situation ließ sich auf lokaler Ebene bereits 2013 nach dem Ebola-Ausbruch in Westafrika beobachten. Im Zuge der Eindämmung gegen den Ausbruch verpasste eine Million Kinder Routineimpfungen, wurde also auch nicht gegen Masern geimpft. US-amerikanische Forscher errechneten, dass das dazu führen könne, dass bei einem Masernausbruch so viele Kinder sterben wie Menschen beim großen Ebola-Ausbruch (Science: Takahasi et. al., 2015).

Dazu kommt: Fehlt die Masernimpfung, fehlen oft auch andere Grundimpfungen, etwa gegen Kinderlähmung, Tetanus, Hepatitis – Krankheiten, die im Vergleich zu Masern erst mit Verzögerung ausbrechen, aber nicht weniger gefährlich sind. Im Jahr 2020 etwa erhielten weltweit 23 Millionen Kinder keine Routineimpfungen, 3,7 Millionen mehr als im Jahr 2019. Organisationen wie Unicef wollen diese Lücken nun mit großen Kampagnen, etwa in Afghanistan, schließen.

Die Zahl der Masernfälle ist dabei aber auch ein guter Anhaltspunkt für etwas anderes: Der Anstieg sei auch so beunruhigend, sagt Gertler, "weil Masernausbrüche ein erster Indikator dafür sind, wie schlecht die Gesundheitsversorgung ist. Wenn eine simple Impfung nicht gewährleistet werden kann, dann sind aufwendige Therapien meist erst recht nicht möglich." Etwa wenn es um Kaiserschnitte geht, um die Behandlung von Malaria, von HIV oder Tuberkulose.

Hinter dem weltweiten Anstieg steckt allerdings noch eine weitere Ursache, die sich durch den einfachen Zugang zu Impfstoffen nicht immer bekämpfen lässt. Als die WHO 2019 eine Liste der weltweit größten Gefahren für die globale Gesundheit veröffentlichte, fand sich darunter nicht nur Ebola und Luftverschmutzung, sondern auch Impfskepsis. Besonders bei der steigenden Zahl von Masernfällen in Europa spielt sie eine große Rolle.

Falschinformationen gefährden Leben

Während die Erkrankung in Nord- und Südamerika schon vor Jahren praktisch eliminiert worden ist, kommt es etwa in Deutschland immer wieder zu Masernausbrüchen mit Toten. Die für die Ausrottung notwendige Impfquote von ungefähr 95 Prozent wird immer wieder knapp verfehlt. Eine Tatsache, der das Bundesgesundheitsministerium mit einer Impfpflicht für Kita- und Schulkinder begegnete. 

Ein bedeutender Teil der Masernausbrüche auf dem europäischen Kontinent entfällt gegenwärtig auf die Ukraine, wo der Anteil der Kleinkinder, die gegen Masern geimpft sind, im Jahr 2016 auf 42 Prozent fiel. Der Osteuropawissenschaftler Krzysztof Nieczypor schrieb in einer Analyse für die Bundeszentrale für Politische Bildung, dies sei als Zeichen des Misstrauens der Bürger gegenüber staatlichen Gesundheitseinrichtungen zu werten, die sich durch Korruptionsskandale und ein folgendes Verwaltungschaos disqualifizierten.

Er sah außerdem eine einflussreiche Antiimpfkampagne im Internet als Auslöser der Skepsis. Solche gezielten Falschmeldungen haben – nicht nur in der Ukraine, sondern weltweit – inzwischen so sehr zugenommen, dass die WHO von einer regelrechten "Infodemie" spricht.

Am Ende kommt bei einem großen Masernausbruch dann all das zu dem zusammen, was Epidemiologinnen und Epidemiologen als "perfekten Sturm" bezeichnen, wie etwa in der Ukraine: Dort stoppte die Pandemie und ihre Gegenmaßnahmen eine groß angelegte Impfkampagne, die die Impflücken bei Kleinkindern stopfen sollte. Dann kam der Krieg, der Menschen in überfüllte Züge und provisorische Massenunterkünfte trieb. Der einzige Gewinner: Erreger wie die Masern.